Zitiert: Gemeinwohl oder Markt – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk am Scheideweg

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Vier junge Menschen sitzen auf einer Wiese und teilen sich lachend eine Pizza. Über dem Bild ist der Satz eingeblendet: „Gemeinsam wollen wir das Leben jedes Einzelnen jeden Tag ein bisschen wertvoller machen.“ Was würde Ihnen dazu einfallen? Eine Werbung für eine Fast-Food-Kette? Oder die Anzeige eines digitalen Start-up-Unternehmens für Fertigkost? Weit gefehlt. Das ist die publizistische Vision der Programmdirektion des Westdeutschen Rundfunks (WDR). Damit hat sie im WDR-Rundfunkrat die „lineare und digitale Channelstrategie“ für das WDR-Radioprogramm bis zum Jahr 2025 vorgestellt. ….

Heute diskutieren die Redakteur*innen den Erfolg oder Misserfolg ihrer Programme ganz primär auf der Grundlage der Quote. In den Redaktionsstuben der für die Belieferung der sozialen Medien verantwortlichen Redakteur*innen werden inzwischen die „Likes“ gezählt und als Erfolg gefeiert. Qualitativ hochwertige Dokumentationen werden folgerichtig in das Nachtprogramm verschoben, da man von vorneherein geringe Einschaltquoten erwartet. Wie aber konnte es zu dieser fundamentalen Verschiebung der Legitimationsbasis des ÖRR kommen? Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der ÖRR bildet die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur in seinen Programmen ab, er ist zugleich ein Teil davon. Der marktliberale Geist, der die westlichen Demokratien heute beherrscht, hat auch vor dem ÖRR nicht Halt gemacht. ….

Der herrschende Kurs der totalen Ökonomisierung zeigt sich exemplarisch bei der größten deutschen Sendeanstalt, dem WDR. Bei dessen Radiowellen lautet das strategische Reformziel, den tagesaktuellen Charakter des Mediums zu betonen ….

Das Ziel der Radioreform besteht demnach darin, die linearen Programme auf ihre Rolle als Livemedium, zuständig für Information und Aktualität, zu reduzieren, während alles Hintergründige und Anspruchsvolle im digitalen Programm in Form von abrufbaren Content-Formaten stattfinden wird. … Ganz im Sinne ihrer marktwirtschaftlichen Orientierung lösen die für das Programm Verantwortlichen die Gesellschaft damit in immer kleinere Zielgruppen und Kundenprofile auf. ….

Alle bisherigen Aussagen der Programmverantwortlichen dazu betreffen ganz primär die Organisation und kaum die Inhalte. Im Vordergrund steht immer und zuallererst die Frage, wie man mehr Hörerinnen und Hörer bzw. Zuschauerinnen und Zuschauer erreicht. Sie orientieren sich dabei an der marktradikalen Logik von Unternehmensberatern, die die medialen Inhalte der ÖRR als letztlich beliebige Produkte begreifen, die auf dem medialen Markt um die Zeit und Aufmerksamkeit der Nutzer*innen konkurrieren.

Dazu werden verstärkt die Nutzungs- und Nutzer*innen-Daten ausgewertet. Das angestrebte Ziel, die Nutzer*innen stets dort „abzuholen“, wo sie sind, und sie gerade nicht im Sinne eines Bildungsanspruchs auch in das Unbekannte mitzunehmen, führt zwangsläufig zu einer Verflachung des Programms und widerspricht im Ergebnis dem Auftrag des ÖRR. Zu diesem gehört es, Themen gerade auch dann zu setzen und dafür zu werben, wenn die Stimmung (noch) nicht danach ist. …. Oder, um noch konkreter zu werden: Wie sollte in abrufbaren Content-Formaten die Tatsache, dass sozial Benachteiligte in unserem Land weit eher an Corona sterben, so aufbereitet werden können, dass dadurch eine gesellschaftspolitische Debatte angestoßen wird? Offensichtlich ist das fast unmöglich. Dabei besteht genau darin die Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien. Es gehört zu ihrem Kernauftrag, den Menschen als Mitgliedern dieser Gesellschaft eine Orientierung zu geben und diese im größtmöglichen Rahmen zu diskutieren. Solche gesellschaftsübergreifenden Inhalte müssen, gerade in Zeiten der autoritär-populistischen Versuchung, gemeinschaftlich debattiert werden.

Robert Krieg, Blätter für deutsche und internationale Politik 06/2021 (online)

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Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
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Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)