Darf BR-Polizeiruf wegen dargestellter „Hilflosigkeit des Staates“ erst nach 22 Uhr gesendet werden?

Der Fernsehdirektor des Bayrischen Rundfunks, Prof. Dr. Gerhard Fuchs, ist voll des Lobes. „Ohne Frage ist dem Regisseur Hans Steinbichler mit dem Polizeiruf ‚Denn sie wissen nicht, was sie tun‘ ein packender und außergewöhnlicher Film gelungen. Auch wie Matthias Brandt seine Rolle umsetzt, ist herausragend.“ Doch dieser „herausragende“ Film darf „aus Gründen des Jugendschutzes“ erst ab 22 Uhr gesendet werden, heißt es in einer Erklärung des Bayrischen Rundfunks. Der Fernsehdirektor folge damit der dringenden Empfehlung der Jugendschutzbeauftragten des BR, Dr. Sabine Mader. Diese hatte von einer Freigabe ab 12 Jahren abgeraten. „Es handelt sich um eine Entscheidung zum Schutz von Kindern. Ein späterer Sendetermin wird beidem gerecht, der Freiheit der Kunst und dem Jugendschutz.“ Doch zu einem späteren Sendetermin werden auch weniger Menschen den Film sehen. Schließlich haben – im Schnitt – zwischen 20.15 und 21.45 über 31 Mio. Menschen ihr Fernsehgerät eingeschaltet. Während es um 22 Uhr zumeist noch 30 Millionen Menschen sind, halbiert sich deren Zahl bis 23.30 Uhr auf ca. 15 Millionen. Sicher, „eine Verschiebung der Sendezeit ist keine Zensur“, wie Gerhard Fuchs feststellt. Doch es ist sicher, dass durch die spätere Sendezeit dieser Polizeiruf Sendezeit eine geringere gesellschaftliche Reichweite haben wird.

Die Jugendschutzbeauftragte Dr. Sabine Mader begründet ihre Entscheidung so: „Die Entscheidung des Fernsehdirektors und die Empfehlung der Jugendschutzbeauftragten basieren auf den zwingend zu beachtenden gesetzlichen Regelungen des Jugendmedienschutzes. Für Filme gelten andere, strengere Regeln als für Nachrichten. Diese privilegiert der Gesetzgeber. Entspannende Momente, die für einen 20 Uhr-Krimi typisch sind und einer emotionalen Überreizung und Ängstigung von Kindern und Jugendlichen entgegen wirken, finden hier nicht statt.“ Bei einer Altersgruppe unter 14 Jahren bestehe das „Risiko einer nachhaltigen Angsterzeugung“. Doch Ziel des Jugendmedienschutzstaatsvertrages ist es nicht, das „Risiko einer nachhaltigen Angsterzeugung“ zu vermeiden. Gesetzlicher Auftrag ist laut KJM „der einheitliche Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Angeboten in elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien, die deren Entwicklung oder Erziehung beeinträchtigen oder gefährden, sowie der Schutz vor solchen Angeboten in elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien, die die Menschenwürde oder sonstige durch das Strafgesetzbuch geschützte Rechtsgüter verletzen.“

Die Süddeutsche Zeitung zitiert deshalb aus einer längeren Einschätzung der Jugendschützerin, die deutlich macht, dass einen neuen Zusammenhang herstellt. Laut Sabine Mader sind die Botschaften des Films, „Staat versagt komplett, keine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse“, geeignet, „Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren in ihrer Entwicklung zu beeinträchtigen.“

Die Süddeutsche Zeitung verweist darauf, dass ein Jugendschutzkriterium „Hilflosigkeit des Staates“ nicht existiere. In einem Katalog zum Jugendmedienschutz wird aufgelistet, worauf die Jugendmedienschützer genauer schauen: auf „Verletzungen“ (beispielsweise Tötungsszenen, offene Wunden, zerquetschte Unfallopfer), „bedrohliche Situationen“ (wimmernde Opfer, ängstliche Schreie), „Körper, die in einer inhumanen und abnormalen Weise dargestellt werden“, (explizite) „Sexualität“, „faschistisches Gedankengut und Herrenmenschensymbolik“, „explizite Gewaltausübung und Kriegshandlungen“, „Naturkatastrophen“ (Tsunamis, Tornados, einstürzende Häuser), Selbstschädigung (Koma-Saufen, Suizid) und „psychische Extremsituationen“ (Mobbing, Inzestschwangerschaft, Geiselnahme).“

Doch der Polizeiruf hat einen festen Sendeplatz. Es ist schon bei der Entwicklung der Drehbücher klar, dass der Film um 20.15 Uhr gesendet werden soll.

Beim Bayrischen Rundfunk soll die Jugendschutzbeauftragte „die Programmverantwortlichen bei der Programmgestaltung, aber auch im Vorfeld der Sendung bei der Programmplanung und beim Programmeinkauf“ beraten. „Die rechtzeitige Beteiligung und Information der Jugendschutzbeauftragten ist vor allem deshalb wichtig, weil bei einer Produktion in einem weit fortgeschrittenen Stadium möglicherweise Kosten für Änderungen entstehen, die eine jugendschutzkonforme Gestaltung der Sendung aus wirtschaftlichen Gründen erschweren.“ Oder der Film muss auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. So wie jetzt. Und zieht eine rufschädigende Debatte nach sich.

Und so frage ich mich, ob die Jugendschutzbeauftragte nicht angesichts der Sendezeit automatisch bei jedem Tatort bzw. Polizeiruf einbezogen werden müsste? Oder ist ihr dieser Polizeiruf durchgerutscht?

 

Bisher gab es keine Debatte zu dem Film unter den Jugendschutzbeauftragten der Sender. Vor fast genau 5 Jahren im Fall des Films „Wut war dies anders. Der Sendezeitverschiebung war eine Diskussion unter den Jugendschützern der Sender vorausgegangen. Da gab es unterschiedliche Meinungen. Doch es war das Votum der Runde der Jugendschützer, dem sich die Intendanten anschlossen, das dazu führte, dass der Film bei der Erstausstrahlung erst 22 Uhr lief, einzelnen Dritte den Film dann jedoch in der Wiederholung auf 20.15 Uhr programmierten. Der WDR-Fernsehfilm-Leiter Gerhard Henke hatte damals im Presseheft des Films erklärt, dass „Wut“ in eine Reihe mit provokanten WDR-Legenden wie „Millionenspiel“ und „Smog“ zu sehen sei. Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sei es, „politische und soziale Themen aufzugreifen“. Die Fernsehfilme müssten „radikale Fragen stellen, um radikale Antworten geben zu können“.

Die Polizeirufe des BR waren in letzter Zeit oft gesellschafts- bzw. staatskritisch. Ist dies beim Bayrischen Rundfunk nicht mehr erwünscht? Einiges deutet darauf hin. Die Jugendschützer der anderen Sender wurden nicht einbezogen. Weder die Fernsehdirektoren noch die Intendanten durften mit entscheiden. Zudem wurde der Titel des Films verändert. Die Sendezeitdebatte kommt jetzt, nach der Endabnahme. Dabei werden die

Jugendschützer normalerweise schon vor der Abnahme des Rohschnitts einbezogen. .

LINKS

Bayrischer Rundfunk – 1. Erklärung

Hamburger Abendblatt

Die zuständige Redakteurin Cornelia Ackers erklärt im Presseheft zum „Polizeiruf 110“ auf die Frage, ob solche Filme die Angst vor Attentaten schüren können: „Wenn man das glaubt, dann dürfte man keine Filme über vergiftete Lebensmittel, über Wirtschaftskrisen oder Flugzeugentführungen machen. Das Thema ist ein Bestandteil unseres Lebens und nicht unsere Erfindung.“

FAZ

Hauptkommissar Hanns von Meuffels, gespielt von Brandt, soll ein aufgeklärter „Wertkonservativer“ der „Post 68“-Generation sein, jemand, der „für eine Kurskorrektur in unserer Gesellschaft“ stehe, für „ein ungeheuer brisantes Lebensgefühl“, der an „Werte wie Höflichkeit und Menschlichkeit“ glaubt, dem aber Tradition um der Tradition willen widerstrebt. …

Eine Verschiebung ist keine Zensur, sie geht freilich einher mit einem Affront den Kreativen gegenüber, dem Regisseur, der Redaktion und den Schauspielern. Und sie zeugt vielleicht von ein wenig Angst vor der eigenen Courage, wie sie die ARD vor fünf Jahren zeigte, als der WDR-Film „Wut“ von der besten Sendezeit ins Spätprogramm verschoben wurde.

Damals ging es um Gewalt an der Schule am Beispiel des Anführers einer türkischen Jugendgang. Auch lässt sich ins Feld führen, dass der „Tatort“ und der „Polizeiruf“ generell kein für Zwölfjährige geeignetes Programm sind, angesichts der Stoffe, die dort verhandelt werden.

Berliner Zeitung

Inschallah bedeutet: „So Allah will“. Ersetzt man das Allah durch den Bayerischen Rundfunk (BR) oder den lieben Gott, versteht man, warum der Regisseur Hans Steinbichler derzeit nicht gut zu sprechen ist auf den BR. „Inschallah“, so lautete der Arbeitstitel seines ersten „Polizeirufs 110“, den Steinbichler für den BR gedreht hat. … „Mir war nicht bekannt, dass ich mit dem Auftrag arbeite, ein positives Staatsbild zu zeichnen“, bemerkte denn auch der Hauptdarsteller Matthias Brandt bissig. Dem Regisseur verschlug es dagegen glatt die Sprache. Was sollte er auch sagen? Der neue, vom BR entschärfte Titel seines Krimis, sprach für sich. „Denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Bayrischer Rundfunk – 2. Erklärung

Nach der Entscheidung, den künstlerisch ausgezeichneten „Polizeiruf 110 – Denn sie wissen nicht, was sie tun“ aus Gründen des Jugendschutzes erst ab 22.00 Uhr zu senden, hat sich eine Diskussion über den Schutz von Kindern vor Gewaltdarstellungen im Fernsehen entwickelt. Der BR fördert den Diskurs und veröffentlicht die Standpunkte von Prof. Dr. Fuchs und Regisseur Hans Steinbichler.

Hans Steinbichler: Für mein Empfinden hat Gerhard Fuchs mit der Bewertung dieses Polizeirufs einen Präzedenzfall geschaffen, der eine sehr notwendige Diskussion um Sinn und Wirklichkeitsnähe des gesetzlichen Jugendschutzes in Gang bringen kann und muss. Das würde nicht nur den Jugendlichen, sondern der ganzen Gesellschaft nutzen. Weil ich glaube und annehme, dass Gerhard Fuchs diese Diskussion ernst nimmt, habe ich seine Entscheidung, so bitter sie für mich als Filmemacher ist, akzeptiert. Ich denke, dass diese Diskussion den Zeitpunkt 20.15 in Deutschland verändern wird und vielleicht verändern muss. Den Preis, dass ‚mein‘ Polizeiruf deswegen später laufen muss, zahle ich dann gerne.

Gerhard Fuchs: Als Fernsehdirektor stehe ich aber auch in der Verantwortung, das hohe Gut des Jugendschutzes zu gewährleisten. Mit meiner Entscheidung, diesen Film erst ab 22.00 Uhr zur Ausstrahlung freizugeben, ist eine wichtige Debatte angestoßen, deren Aktualität und Notwendigkeit vor dem Hintergrund der verstörenden Anschläge in Norwegen noch deutlicher geworden ist. Was wollen wir unseren Kindern und Jugendlichen um 20.15 Uhr zeigen, was wollen wir ihnen zumuten? Sicher, die Darstellung von Gewalt und Leid, von menschlichen Abgründen, von Hoffnungs- und Ausweglosigkeit ist lange schon Alltag in der medialen Landschaft. Aber das sollte uns nicht daran hindern inne zu halten und über unsere Arbeit und deren Wirkung zu reflektieren.

Das Echo in den Zeitungen der letzten Tage hat mich bestärkt: Wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir diese Debatte in die Redaktionen tragen und dort offen und kontrovers führen.

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Zitat der Woche
Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
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Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)