Immer wieder forderten Politiker und Journalisten, dass Christian Wulff zurücktreten müsse, damit „das Amt des Bundespräsidenten keinen Schaden nimmt“. Nun wird gefordert, dass man schnell einen parteiübergreifenden Kandidaten finden müsse, damit „das Amt des Bundespräsidenten keinen Schaden nimmt“.
Doch in wessen Augen kann das „Amt des Bundespräsidenten“ einen Schaden nehmen? Sehen und verstehen Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten das Bundespräsidentenamt nicht anders als Bürgerinnen und Bürger? Wenn sich alle auf eine Person einigen, wie immer wieder gefordert, haben wir dann nicht eine „Nationale Einheitsfront“? Obwohl – die gibt es ja schon, wenn man sieht, dass die fünf Bundestagsparteien in mindestens einem Bundesland mitregieren.
Kann es eine Kandidatin, einen Kandidaten für alle geben, wenn sich die Widersprüche im Land zuspitzen, wenn der Abstand zwischen den sozialen Gruppen zunimmt? Es gibt Widersprüche, da kann ein Bundespräsident nicht mehr zwischen den Interessegruppen vermitteln, ausgleichen, dann muss er sich auf eine Seite stellen. Und – wenn er es nicht macht, dann legitimiert er den Status quo, dann akzeptiert er die laufenden Entwicklungen – die einer Seite zu Gute kommen.
Alle können sich nur dann auf einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin einigen, wenn dieser die Aufgabe hat, das politische System, das selbstreferentielle Netzwerk aus Politik, Medien und Unternehmen als solches abzusichern, die Bürgerinnen und Bürger zu Narren zuhalten, indem er zum Beispiel moralische Reden hält und verfassungswidrige Gesetze unterschreibt..
Doch brauchen wir das Amt des Bundespräsidenten. Gregor Gysi meint, „ein bisschen König beziehungsweise Königin brauchen wir alle“. Friedrich Küppersbusch fragt, wozu man „diesen Wurmfortsatz des Kaiserreichs“ noch braucht, der damals dazu dienen sollte, den Menschen den Übergang von der Monarchie zu erleichtern. Ein „Grüßaugust“ also „Staatsoberhaupt“, das sei „mit Hindenburg grausam schiefgegangen: Der oberste Repräsentant der Demokratie hat die Demokratie abgeschafft und Hitler beauftragt. Und dann haben wir uns einen Johann-ohne-Land gegönnt, in der bundesrepublikanischen Verfassung ein Staatsoberhaupt, das fast gar nichts zu sagen hat.“ Im Interview mit dem Deutschlandradio sagte er schon vor Wochen, „dass es einer parlamentarischen Demokratie gut stünde, wenn der Chef des Parlamentes Staatsoberhaupt wäre. … Das würde parlamentarisches Selbstbewusstsein ausdrücken“, zumal die drei letzten Bundestagspräsidenten Ansehen und Format hatten. Die drei letzten Bundespräsidenten konnten aus seiner Sicht da nicht mithalten. „Horst Köhler war ein Stümper im Amt, Roman Herzog war ein Ruckredner, der heute alles zurücknehmen müsste im Angesicht der Wirtschaftskrise, Johannes Rau kam als todkranker Mann in dem Amt an und konnte kaum mehr etwas bewegen, der letzte, an den ich mich positiv erinnere, ist Weizsäcker, das sind die 80er-Jahre.“
Ein Blick auf frühere „Skandale“ macht deutlich, dass sich die Gesellschaft geändert hat. Bei Franz-Josef Strauß war vieles bekannt, trotzdem stürzte er nicht über seine Amigo-Affären. Selbst Gerhard Schröder konnte sich noch als „Genosse der Bosse“ inszenieren. Im Gegensatz zu beiden sind die bekannt gewordenen Vorwürfe und Vorteilsnahmen von Christan Wulff klein und kleinlich. „Was also hat sich in den vergangenen Jahren verändert, dass die Bürger neuerdings so allergisch auf Korruption und Betrug reagieren?“, fragt Ulrike Herrmann in der taz. „Es ist die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Seit zehn Jahren fallen die Reallöhne der Normalverdiener, während die Reichen deutlich reicher werden. Als noch jeder vom Wirtschaftswachstum profitierte, wurde die Korruption akzeptiert.“ Nun, ganz so stimmt es nicht. Auch solche Affären kann man aussitzen. Wie das geht, zeigte Roland Koch einige Male. Nicht die Bürgerinnen und Bürger haben Christian Wulff gestürzt. Es ist doch zu fragen, warum bei Christian Wulff immer wieder „nachgelegt“ wurde? Da gab es Netzwerke, die Interesse hatten, dass er ersetzt wird. Denen geht es nicht um das Amt oder gar die Würde des Bundespräsidenten. Schließlich war genug Leuten bekannt, wie Christian Wulff „tickt“. Trotzdem haben sie ihn mit zum Bundespräsidenten gemacht.
Es geht für die herrschenden Kreise derzeit anscheinend darum, einen „sauberen Eindruck“ zu inszenieren, den Bürgerinnen und Bürgern einen „Moralapostel“ vorzusetzen. Dabei weiß man doch, dass man in der Politik kaum „ohne die Trennung von Amt und Würde“ an die Spitze gelangen kann.