Netzwerk – Recherche -Jahreskonferenz mit Verleihung der Verschlossenene Auster

 

Hamburg, 09. und 10. Juli 2010
„Fakten für Fiktionen – Wenn Experten die Wirklichkeit dran glauben lassen“
unter diesen Leitsatz wurde die diesjährige Netzwerk-Recherche-Jahreskonferenz gestellt, die am 9. und 10. Juli nun zum 9. Mal auf dem Gelände des NDR-Fernsehens in Hamburg statt fand. Passend zum Motto gab es auch eine eigene Lesungsreihe, die sich nur mit dem Thema „Experten“ befasste. Was sind Experten? Welchen Anspruch sollten Journalisten an Experten stellen? Und wie verhält es sich mit sogenannten Expertenanhörungen im Bundestag? All diese Fragen wurden auch anhand praktischer Beispiele, wie der Schweinegrippe, der Gentechnik und den Finanzmärkten untersucht. Inmitten einer Auswahl von über 80 Seminaren, Podiumsdiskussionen und Lesungen, von denen jeweils immer fünf parallel statt fanden, war es jedoch nicht immer einfach sich den eigenen Weg im Angebotsdschungel zu bahnen. Zeitgleich fanden auch interessante Recherche-Seminare statt, wo es um strafrechtsrelevante Fragen ging, beispielsweise wie Journalisten Informationen von Polizei und Staatsanwaltschaft verwerten sollten und wie sie mit geheimen Informanten („Whistleblowern“) umzugehen haben. Und nicht zuletzt die Frage, wie man Undercover-Recherche à la Günter Wallraff mit verdeckten Dreharbeiten betreibt.

 

 

Das gesamt Programm ist online unter: http://www.netzwerkrecherche.de/files/nr-jt2010-programm-20100707.pdf verfügbar.

 

Wie jedes Jahr wurde auch diesmal die Verschlossene Auster, der Negativpreis für den Informationsblockierer des Jahres vergeben. Für ihren Umgang mit dem Missbrauchsskandal an Kindern bekam ihn dieses Jahr die Deutsche Bischofkonferenz stellvertretend für die gesamte katholische Kirche.

 

„Die Deutschen Bischöfe geben bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle nur die Tatsachen zu, die sich nicht mehr leugnen lassen. Die katholische Kirche respektiert den Anspruch der Öffentlichkeit auf frühzeitige und vollständige Information nicht und widerspricht damit ihren eigenen Werte-Postulaten nach Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit“, sagte Prof. Dr. Thomas Leif, Vorsitzender von netzwerk recherche, zur Jurybegründung.

 

 

Die „Laudatio“ hielt Heribert Prantl, Ressortleiter Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung mit einer rhetorisch exzellenten und geistreichen Rede. Es waren die einfachen, klaren und doch so erhellenden Worte, mit denen er Licht in die dunklen Ecke dieser Jahrhunderte alten Institution brachte, die, so Prantl, zur Zeit mehr Mitleid für sich selbst entwickele als für die Opfer. Zur Verschwiegenheit der katholischen Kirche über Ihre eigenen Verfehlungen sagte Prantl: „Ausgerechnet die Kirche als Fachinstitution für das Benennen und Eingestehen von Verfehlungen, als Fachinstitution für Schuldbekenntnis, Buße, Reue und Vergebung musste und muss von Opfern und Medien gezwungen werden, Stellung zu beziehen“. Nicht unerwähnt ließ Prantl an dieser Stelle in einigen Fällen sogar mit strafrechtlichen Schritten auf die Berichterstattung in den Medien: So klagte das Bistum Regensburg gegen das Online-Portal Regensburg Digita,l um Kritiker zum Schweigen zu bringen. „Das unselige Ultimatum“ von Erzbischof Zollitsch, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, an Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, sich binnen 24 Stunden für den Vorwurf zu entschuldigen, die Kirche würde mit den Strafverfolgungsbehörden nicht konstruktiv zusammenarbeiten sei ein letzter Ausläufer einer Haltung, die Prantl als herzlose Verbarrikadierung bezeichnete.

 

Prantls Kritik ging sogar noch weit über die aktuelle Enthüllung der Missbrauchsfälle und ihren Umgang damit hinaus: „Eine Gemeinschaft, die vom Wort lebt wie keine andere, hat die Sprache verloren. Sie ist sprach- und sprechunfähig geworden, nicht nur aber vor allem, wenn es um ihr Verhältnis zur Sexualität geht. Die Diskussion über den Zölibat samt Sexualität der Priester ist ein Tabu, die Diskussion über die katholische Sexuallehre ist ein Tabu, das Reden über Verhütung ist tabu. Wenn es soviele Tabus gibt, gibt es keine Wahrhaftigkeit mehr.“ Dieser Äußerung setzte dann noch eins drauf. In klaren nüchternen Worten stellte Prantl fest: „Pädophilie ist das Risiko einer zwangszöllibatären und monosexuellen Kirche, der in 2000 Jahren zwar die Vertreibung der Frauen aus allen Machtpositionen, aber nicht die Entsexualisierung des Menschen gelingen konnte“.

 

Prantls exzellente Rede als Text unter diesem Link: http://www.netzwerkrecherche.de/Projekte/Verschlossene-Auster/Verschlossene-Auster-2010/Laudatio-2010/

 

 

Die gesamte Rede von Heribert Prantl zum Nachhören:

{accesstext mode=“level“ level=“author“} Um die Audio und Videodateien des Artikels abspielen zu können, müssen Sie sich anmelden. || >{mp3}20100710_nr_auster_prantl_heribert{/mp3}< {/accesstext}

 

Entgegen nahm den Negativ-Preis stellvertretend für die katholische Kirche Matthias Kopp, Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz. Dieser zeigte sich in seiner Gegenrede professionell distanziert und konterte mit einer Reihe von Ausflüchten und kryptischen Begründungen für die verschlossene Haltung seiner Institution. Ein flüchtiges Schuldeingeständnis wurde gleich zu Beginn mit drei „Jas“ abgehandelt.

 

„Ich nehme den Preis an, um deutlich zu machen: Ja, wir haben in die schwerste Krise der katholischen Kirche in Deutschland seit 1945. Ja, wir haben uns in der Frage des Missbrauchs zu lange schützend vor die Opfer gestellt und zu wenig um die Opfer gekümmert. Ja, wir haben Fehler in der Kommunikation Fehler gemacht“, sagte Kopp in seiner Gegenrede, um dann jedoch schnell Rechtfertigungen für das Kommunikationsproblem seiner Institution zu finden. Hier ein paar seiner kryptischsten und zugleich entlarvendsten Zitate:

„Thomas von Aquin, der große Kirchenlehrer im Mittelalter, sagt von der Auster: „So verschlossen sie ist, so viel Wertvolles birgt sie inne.“

„Wenn ich also Thomas von Aquin hier in Hamburg bemühe, dann um deutlich zu machen, dass Ihr Preis für die katholische Kirche durchaus wichtig ist: Sie mag zwar hier und da verschlossen sein, aber wie uns das Leben lehrt, will das Wertvolle mit Bedacht entdeckt sein. Zudem: Stellen Sie sich einmal vor, wir wären so transparent wie deutsche Ministerien und Wirtschaftsunternehmen, da hätten Sie ja nichts mehr zu recherchieren. Was aber macht das Spannende an der Kirche aus, das manchmal für Sie vielleicht auch Strapaziöse, wenn es in den Bistümern und ihren Pressestellen nicht so schnell geht, wie Sie es sich wünschen? Mein Freund und Ihr Kollege Alexander Smoltczyk vom Spiegel hat das treffend in seinem Buch „Vatikanistan“ beschrieben. Es sei schwierig in den Vatikan hinzukommen, nicht nur weil er von hohen Mauern umgeben sei. Sondern weil die Kirche nicht von dieser Welt sei. Das heißt: Die Kirche hat eine Verantwortung für das Jenseits, sie fragt immer nach dem Gegenüber, dem Transzendenten.“

 

 

Die gesamte Gegenrede als Text unter: http://www.netzwerkrecherche.de/Projekte/Verschlossene-Auster/Verschlossene-Auster-2010/Gegenrede-2010/

Interview der Autorin mit Matthias Kopp, Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz:

{accesstext mode=“level“ level=“author“} Um die Audio und Videodateien des Artikels abspielen zu können, müssen Sie sich anmelden. || >{mp3}Dimbb_Kopp{/mp3}< {/accesstext}

 

Zum Abschluss der zweitägigen Konferenz gab es noch eine sogenannte „Elefantenrunde“ mit dem reißerischen Titel: „Gebührengelder nur noch für Trallala?“

Auf dem Podium diskutierten Volker Herres, ARD-Programmdirektor, Dr. Thomas Bellut, ZDF-Programmdirektor, Friedrich Küppersbusch, TV-Produzent, Prof. Dr. Max Otte, Finanzwissenschaftler und Gert Monheim, ehemaliger WDR „Die Story“. Moderiert wurde die Diskussion von  Markus Brauck, Medienredakteur beim Spiegel.

 

Die mehrstündige Live-Übertragung der Wahl des Bundespräsidenten im Ersten war für die ARD ein Quotenknüller. Dies wurde zum Anlass genommen die Verantwortlichen Programmmacher einmal zu fragen, ob man auch künftig beabsichtige mit Politik Quote zu machen. Beide Programmchefs, sowohl von ARD und ZDF, wiegelten ab. Die vergangene Bundespräsidentenwahl sei ein besonders emotionales Event für die Bevölkerung gewesen, „die in Zeiten einer andauernden Koalitionskrise eine besondere Dramaturgie entwickelt habe, die die Bevölkerung live miterleben wollte“, begründete Volker Herres von der ARD seine Entscheidung. Das würde aber nicht heißen, dass die ARD nun auf Politik in der Prime-Time setze.

 

Das eigentliche Problem der Politik und damit auch ihrer Vermittlung im Fernsehen sei, dass „dort wo Partei drauf steht, nicht mehr Politik drin ist“, sagte TV-Produzent Friedrich Küppersbusch auf die Frage des Moderators, ob Politiker Entertainer sein müssen, damit sich Menschen wieder für Politik interessierten. Was die Menschen damals politisierte waren große Themen wie Umweltbewegung, Frauenbewegung, Bürgerrechtsbewegung, Antiatombewegung, Gegen-NATO-Nachrüstungsbewegung, die sie selbst an die Politik herantrugen, erinnerte  Küppersbusch. Die politischen Themen seien heute so kompliziert geworden, dass bei politischen Talksendungen alles immer erst „verdolmetscht“ werden müsse, damit die Zuschauer überhaupt den Fachgesprächen folgen könnten. Politiker und TV-Macher würden dafür von Bürgerinnen und Bürgern durch sinkende Seh- bzw. Wahlbeteiligung abgestraft. Der Lobbyismus in der Politik habe zugenommen, Themen würden von der PR auf die Agenda gesetzt. Journalisten müssten daher mehr eine „eigene klare Linie“ dagegen setzen, forderte der Finanzwissenschaftler Prof. Dr. Max Otte. In die Vollen mit seiner Kritik an die öffentlich-rechtlichen Sender ging der ehemalige WDR-Dokumentarfilmer Gert Monheim. Heute zähle nur noch die Quote, so sein Vorwurf. Noch in den 80iger und 90iger Jahren wurden politische Dokumentarfilme in der Prime-Time gesendet, heute würden seine Kollegen für die gleichen Themen noch nicht einmal mehr einen 23:00-Uhr-Sendeplatz bekommen, so Monheim. Ab diesem Punkt fing das Streitgespräch erst richtig an. Am Ende musste man sich als Zuhörer jedoch die Frage stellen, was die Diskussion letztlich bewirkt hat? Nicht viel! Es bleibt dabei: Politik in der Prime-Time, das finden die Programmmacher von ARD und ZDF unsexy. (ek)

Die gesamte Podiumsdiskussion zum Nachhören:

{accesstext mode=“level“ level=“author“} Um die Audio und Videodateien des Artikels abspielen zu können, müssen Sie sich anmelden. || >{mp3}20100710_nr_kueppidiskussion{/mp3}< {/accesstext}

 

Berichterstattung in den Medien über die netzwerk recherche Jahrestagung:

 

Meedia-Magazin:

http://meedia.de/nc/details-topstory/article/netzwerk-recherche-mit-rekordbesuch_100029033.html?tx_ttnews[backPid]=23&cHash=5e84e88af7

Welt-Online:

http://www.welt.de/die-welt/regionales/hamburg/article8395731/Treffen-des-Netzwerks-Recherche-Was-ist-eigentlich-ein-Experte.html

Tagesspiegel:

http://www.tagesspiegel.de/medien/gute-zeiten-schlechte-seiten/1880172.html

Heise-Online

http://www.heise.de/newsticker/meldung/Netzwerk-Recherche-Pentestereien-fuer-Journalisten-1036699.html

Taz:

http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/mit-guten-gruenden-misstrauen/

Medienmagazin (Radioeins)

http://download.radioeins.de/mp3/medienmagazin/mm20100710.mp3

 

Fazit:
Wissenswert: *****
Unterhaltungswert: ***
Kontaktwert: *****
Ambiente: ***

 


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Zitat der Woche
Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
Out of Space
Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)