Der Streit um die von Willy Brandt, dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler, und seinem liberalen Außenminister Walter Scheel vorangetriebene „Ostpolitik“ strebte seiner Entscheidung entgegen. Die 1970 mit den kommunistischen Regierungen in Moskau und Warschau geschlossenen Verträge sollten endlich vom Bundestag ratifiziert werden. … Darum gab es Diskussionen in der bundesdeutschen Gesellschaft, deren Schärfe bis in die Familien reichte. Niemand sprach damals von „Spaltung der Gesellschaft“, doch war viel Unversöhnlichkeit zu spüren zwischen Befürwortern und Gegnern der „Ostpolitik“. Die ohnehin knappe Mehrheit der sozialliberalen Regierung schmolz in den Wochen vor dem Ratifizierungstermin am 17. Mai 1972 durch spektakuläre Übertritte von Abgeordneten beider Regierungsfraktionen zur Union so zusammen, dass ein „konstruktives Misstrauensvotum“ nach den Vorgaben des Grundgesetzes möglich zu sein schien: Abwahl des Kanzlers durch Neuwahl eines neuen Kanzlers. Dies scheiterte am 27. April 1972 zur allgemeinen Überraschung durch Abweichler in der Union …
Was für eine Dramatik: Zwanzig Monate Dauerstreit im Land, Austritte aus den Regierungsparteien, Abweichler bei der Opposition, alles knapp, alles am seidenen Faden. Die Rettung von Brandt und Scheel hing an zwei Stimmen.
Gustav Seibt, sueddeutsche.de, 29.01.2022 (online)