Starke Meinungen scheinen allzu oft wichtiger als sachliche Analyse. Während andere Medienhäuser eine eindeutige politische Positionierung zugunsten differenzierter Sichtweisen aufgaben, habe Julian Reichelt die Bild-Redaktion als eine Art außerparlamentarische Opposition aufgestellt, so Medienforscher Lilienthal. Die landläufige Kategorisierung von Bild als knalligem Boulevard hält er für untauglich: „Ich würde von ideologischem Tendenz-Journalismus sprechen.“
Der Hamburger Medien-Professor konnte vor gut einem Jahr auf Einladung des damaligen Chefredakteurs Reichelt tiefe Einblicke in den Alltag von Bild nehmen. Lilienthal nahm an Redaktionskonferenzen teil und führte ausführliche Interviews mit 43 Journalistinnen und Journalisten. Dabei gewann er exklusive Erkenntnisse über deren Selbstverständnis und die Fehlerkultur im Haus. Der Forscher hat Bild bei seinen Besuchen als hochprofessionelles Medium mit einer vorausschauenden Themenplanung erlebt. Überall sei er auf „freundliche, auskunftsbereite und kluge Kolleginnen und Kollegen getroffen“. Die Redaktion habe zudem geringe Zutrittsbarrieren und beschäftige sowohl ganz Junge, die ein Praktikum oder eine freie Mitarbeit als Sprungbrett nutzen konnten, als auch hochausgebildete Akademiker. Mit dem Klischee erkennbar unseriöser Boulevard-Schreiberlinge habe die Bild-Redaktion nichts zu tun.
In den Interviews und von ihm besuchten Konferenzen konnte Lilienthal feststellen, dass bei Bild „ein ganz starkes Chefredakteurs-Prinzip herrscht“. Ein geflügeltes Wort lautete: „Wenn Julian das so möchte, dann kriegt er es auch so.“ Demnach gibt der Bild-Chef in den Konferenzen eindeutig die Lesart der aktuellen Faktenlage vor. Zur internen Fehlerkultur bekam der Medienforscher zu hören: Ja, man könne dem Chefredakteur durchaus kritisch die Meinung sagen. Aber es bewirke nichts. Und wenn Bild, wie jetzt auch wieder, massiv von außen kritisiert wird, sei die Haltung im Haus klar: „Die Reihen fest geschlossen. Wenn wir von außen so angegriffen werden, dann müssen wir zusammenhalten. Man könnte es auch Bunker-Mentalität nennen.“ Bei Lilienthal entstand sogar der Eindruck: „Je stärker die Kritik, vor allem auch auf Social Media, desto weniger setzt man sich ernsthaft damit auseinander.“
Was nicht bedeutet, dass bei Bild alle mit Krawall, Skandalisierung und Sensation um jeden Preis einverstanden sind.
Michael Kraske, journalist.de, 23.01.2022 (online)