Der Dokumentarfilm verändert sich ständig und die Ansprüche an ihn auch. Geblieben ist unser immer schon illusionärer Anspruch, der Dokumentarfilm vermittle Wirklichkeit und Wahrheit. Ja, wenn er ehrlich und aufrichtig und gewissenhaft ist, gelingt eine solche Annäherung an die Wahrheit. Deshalb lastet auf dem Dokumentarfilmer eine noch größere Verantwortung als auf dem Spielfilmregisseur und Drehbuchautor. Während wir den Spielfilm jederzeit als »Fiktion« wahrnehmen können, erwartet der Dokumentarfilm von uns, das zu glauben, was wir da sehen. Und so hat der Dokumentarfilm im Laufe der Filmgeschichte eine immer wichtigere Rolle eingenommen: Er kann beeinflussen, wie die Menschen die Welt sehen, wie sie private und politische Entscheidungen treffen. Das reicht von den Propagandafilmen des Nationalsozialismus bis in die unmittelbare Gegenwart.
Die Abgleichung von Dokumentaraufnahmen aus dem Ukraine-Krieg überzeugen uns davon, dass die Toten auf den Straßen keine ukrainische Inszenierung sind, sondern Opfer eines blutigen, sinnlosen Krieges. Mit Hilfe ganz ähnlicher Bilder will Putin seine ganz andere »Wahrheit« durchsetzen. Dieses Beispiel zeigt: Der Dokumentarfilm ist so wichtig wie nie zuvor. Doch zugleich ist er auch so gefährdet und gefährlich wie nie zuvor. Waren vor Jahrzehnten noch die technischen Mittel, die Bilder zu verfälschen, beschränkt und primitiv, so ist heute das Instrumentarium unendlich vielfältig und von höchster Perfektion. Und deshalb trägt der Dokumentarfilmer eine große Verantwortung. […]
Jeder Dokumentarfilm, der aufrichtig und unvoreingenommen ist, kann uns einen ganz neuen Blick auf die Welt eröffnen, auf einen Mikrokosmos, auf die Menschheit oder auch nur auf einen einzigen Menschen – und uns so bereichern.
Regina Ziegler, swr.de, 17.6.2022 (online)
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