Öffentlich-rechtliches Radio ist europäische Kulturgeschichte. Es hat mitgeholfen, unsere Gesellschaft zu demokratisieren – und trotzdem wird es seit Jahrzehnten zum Alltagsgeräusch kastriert. …
Seit Jahrzehnten wird öffentlich-rechtliches Radio, unter Federführung von Consultingfirmen, zum pragmatisierten Alltagsgeräusch kastriert. Das Schöne und Spannende und Sinnvolle ist immer dann zu hören, wenn Redakteurinnen und Redakteure sich auf Basis von Gesetzen gegen diese Entwicklung stemmen, und niemals, weil es von oben in Auftrag gegeben oder ausreichend finanziert wurde. Ähnliches gilt für den öffentlichen Bildungssektor, die Sozialversicherungen und die Justiz. Wir erleben einen fortgesetzten Anschlag auf die spezifische Identität der europäischen Demokratie. […]
Klar wollten wir eine möglichst spannende, relevante Stimme sein. Aber öffentlich-rechtlicher Rundfunk wurde schon zu Beginn des Jahrtausends unter Existenzdruck produziert. Und der hat sich seither verschärft. Für Innovation und Reflexion ist wenig Spielraum, die Voraussetzung für Qualität bleibt Selbstausbeutung. Ein Vorhaben war damals zum Beispiel, FM4 als genuin mehrsprachiges Popformat zum ersten europaweiten Sender auszubauen. Das Konzept für die EU-Kommission war schon in Arbeit. Aber gleichzeitig haben sich ein paar der schlauesten Köpfe, die mir je begegnet sind, täglich Gewinnspiele und Firmenkooperationen ausgedacht, um ihre Arbeitsplätze zu finanzieren. […]
Ich behaupte, Ö1 und FM4 sind Orte der Gegenkultur. Während der kulturelle Mainstream sich von der Demokratie abwendet, repräsentieren diese beiden Sender einen von der Aufklärung geprägten Blick. Sie sind gallische Dörfer für demokratische Entwürfe von Politik, Wissenschaft und Kunst. Genau das macht sie bei ihrem Publikum so beliebt. Warum wachsen sie dann nicht? Weil sie weder sollen noch dürfen. Statt über öffentlich-rechtliches Internet nachzudenken, verscherbelt Europa sein Familiensilber. Ein Imperium ist ein Imperium und ein gallisches Dorf ein gallisches Dorf.
Hosea Ratschiller, derstandard.at, 9.10.2022 (online)