Jessy Wellmer ist Sportmoderatorin, berichtet aber seit kurzem auch über ihre ostdeutschen Landsleute. Vor einem Jahr fuhr sie durchs Land, um herauszufinden, warum Menschen wie ihre Eltern eine andere Sicht auf den Krieg in der Ukraine und Waffenlieferungen dorthin hatten als die Westdeutschen. Der Film hieß „Russland, Putin und wir Ostdeutsche“. Ihre Fragen waren ungläubig, ihr Blick staunend. Als sei sie aus einer Art Deutschlandschlaf erwacht.
Ich wurde das Gefühl nicht los, das ich oft bei Reportagen über den Osten bekomme: Ich nehme an einer Zooführung teil. Dem westdeutschen Publikum wird erklärt, was mit den Ostdeutschen nicht stimmt. Warum sie zwar die gleiche Sprache sprechen, aber seltsame Dinge sagen. Wie eine Spezies, die es zu erforschen, aber auch zu zähmen gilt, weil sie gefährlich werden könnte. […]
Ich stelle mir dann manchmal vor, es wäre andersherum: Ein westdeutscher Sportreporter befragt seine Landsleute in Sindelfingen oder Buxtehude, um herauszubekommen, wie sich der Kalte Krieg auf deren Amerika-Bild ausgewirkt hat, warum sie zusehen, wie die USA Kriege führen wie im Irak, die sie „Militäroperationen“ nennen. Aber der Zooblick ist immer nur auf den Osten gerichtet. Oder wie Dirk Oschmann sagt: „Der Westen begreift sich stets als Norm.“ Der Osten sei in dieser Systematik die „Abnormität“, ein Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereite. Besonders störe es, wenn das Geschwür sich regt, weil jemand aus dem Osten spreche. Jemand wie er.
Anja Reich, berliner-zeitung.de, 2.10.2023 (online)