Die Positionen politischer Gegner korrekt zusammenzufassen, fordert die meisten Menschen enorm heraus. Dabei gilt: Je abschätziger der Blick auf die Gegenseite, desto abenteuerlicher fallen die Behauptungen über deren vermeintliche Meinungen aus. […]
Wirkliche, also konstruktive Debatten seien nur möglich, wenn die Beteiligten die Position der jeweiligen Gegenseite tatsächlich kennen, argumentieren Psychologen um Charlotte Olivia Brand von der Universität Sheffield in einer aktuellen Publikation. Darin zeigen die Forscher allerdings auch, dass genau dies vielen Menschen schwerfällt. Dabei gilt die Faustregel: Je geringer die Meinung über das jeweils opponierende weltanschauliche Lager, desto verzerrter und wilder die Behauptungen über dessen Positionen. […]
Überraschend war, dass die Beschäftigung mit den Themen nicht in Zusammenhang mit einem erhöhten Verständnis für Gegenpositionen einherging: Wer im Vergleich mehr über die Themen las oder debattierte, konnte Gegenpositionen keinesfalls besser formulieren. Vermutlich sind das also eher jene Menschen, die sich in lauten Streitereien abkämpfen und auf ihrer Leserecherche nach Munitionen für ihre Argumente suchen. Zu verstehen, wie die anderen ticken, ist offensichtlich nicht ihr Ziel. Es ist eben ein süßes Gift, sich auf der richtigen Seite zu wähnen und im Namen des vermeintlich Guten andere niederzumachen – selbst wenn man eine verzerrte Vorstellung davon hat, woran die anderen genau glauben. Auch das gilt: für alle Seiten.
Sebastian Herrmann, sueddeutsche.de, 10.07.2023 (online)