Zitiert: Funktion der „alternativen Fakten“ in der konkreten Kommunikationssituation

Die Empirie zeigt: Menschen auf Social Media haben nicht weniger Kontakt zu anderen politischen Meinungen, sondern im Zweifelsfall sogar mehr. […]

Das Alltagsverständnis wäre ja folgendes: Das Problem mit „alternativen Fakten“ ist, dass sie jemand glaubt. Darum geht es aber nicht primär. Ich sehe mir stattdessen die Funktion der „alternativen Fakten“ in der konkreten Kommunikationssituation an. In vielen Fällen stellt man fest: „Alternative Fakten“ werden oft gar nicht mit dem Ziel verwendet, dass sie geglaubt werden, es sind gar keine Tatsachenbehauptungen im strengeren Sinne. […] Sie sind eine Art überschießende Widerlegungen. Es gibt einen Sachverhalt, der ein Problem für Beteiligte der Kommunikation darstellt, deshalb bringen sie alles in Anschlag, was ihnen einfällt, um diesen Sachverhalt zu problematisieren. […]

Eine geteilte Wirklichkeit ist natürlich eine komplexe Abstraktionsleistung. Alle haben unterschiedliche Perspektiven. Aber in dem pragmatischen Sinne, dass wir uns in unserem Handeln auf bestimmte geteilte Annahmen als Grundlage unseres gemeinsamen Handelns beziehen, ist das Problem nicht größer als früher. […]

Denn natürlich gibt es Menschen, die „alternative Fakten“ glauben. Aber vor allem brauchen wir den Mut, politische Konflikte dort, wo sie auftreten, als solche ernst zu nehmen. Denn alle „alternativen Fakten“ treten im Kontext aufgeheizter politischer Konflikte auf. Wir streiten eben nicht in erster Linie um die Wirklichkeit, sondern darum, wie wir mit ihr umgehen. Wir sollten uns nicht in eine epistemologische Debatte darüber verstricken, was wirklich ist. Sondern bei den Problemen bleiben. […]

Wenn die Leute es nun aber auf Twitter oder Facebook posten, sitzen die Massenmedien mit am Stammtisch. Wenn sie es dann abbilden, liest es die gesamte Öffentlichkeit und erschrickt, zu Recht, über sich selbst. Dafür muss sich aber die Menge solcher Behauptungen gar nicht verändert haben. Indem man hinguckt, wird es verstärkt zum Problem.

Nils C. Kumkar, sueddeutsche.de, 24.10.2022 (online)

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Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
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