Es ging um die Frage, warum im Osten rechtsextreme Einstellungen weiter verbreitet sind als im Westen. Auch das wird ja gern mit ostdeutschen Seelenschäden erklärt.
Brähler, ein Professor aus dem Westen, sagte: „Wenn man Räume untersucht, die ähnliche Sozialstrukturen haben, fallen die Ost-West-Unterschiede weg.“ Und er erzählte von seiner Forschung zur psychischen Gesundheit. Bei Ostdeutschen seien die Grundlagen eher besser, sagte er. Es gebe dort weniger Kindheitstraumata als im Westen. Er habe das selbst erforscht.
Nach dem Interview schickte er seine Studien, zum Nachlesen. Die Untersuchung zu Kindheitstraumata ist im September erschienen. 3711 Westdeutsche und 1015 Ostdeutschen wurden befragt, im Durchschnitt knapp 50 Jahre alt. Heraus kam: Die Ostdeutschen hatten in der Kindheit seltener emotionalen Missbrauch, körperlichen Missbrauch, Vernachlässigung erlebt. Brähler und seine Co-Autoren vermuten als Gründe unter anderem die bessere Kinderbetreuung (mit einer Ausnahme, den Wochenkrippen), weniger strenge Erziehungsideale, das frühere Verbot der Prügelstrafe in Schulen. In der DDR wurde sie 1949 abgeschafft. In der BRD erst 1973. Vielleicht ist es an der Zeit, sich auch den Westen genauer anzugucken.
Ich las die Studie und konnte kaum glauben, dass ich nie zuvor von ihr gehört hatte, dass sie nicht für Schlagzeilen sorgte, als sie erschien. Meinetwegen: kontrovers diskutiert wurde. Aber was sind Studienergebnisse schon gegen eine Geschichte, die man sich weiter erzählen will.
Wiebke Hollersen, berliner-zeitung.de, 13.07.2023 (online)