KI gilt als Turbo für Großkapitalisten. Aber einige Linke träumen davon, mit modernen Technologien eine gerechtere Welt zu programmieren. Dabei lassen sie sich von einem fast vergessenen Experiment in Chile inspirieren. […]
Morozov dagegen fand Inspiration in jenen Nerd-Hippies, die in den Sechzigern eine „kybernetische Gesellschaft“ – die sich selbst dauernd Feedback gibt, und sich so regelt und steuert – entwarfen. Sie experimentierten mit einfacher künstlicher Intelligenz, die dem Menschen nicht wie ein Sklave dienen, sondern ihn herausfordern und seine Kreativität fördern sollte. […]
Für sein anderes Recherche-Projekt „The Santiago Boys“ erforschte er ein Experiment im Chile der Siebzigerjahre. Damals sollten Ingenieure dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende helfen, Gerechtigkeit mit Technologie herzustellen. Sie machten sich unter anderem daran, den Kommunikations-Konzern ITT zu verstaatlichen und Chipfabriken im Norden Chiles zu bauen. Diese „Santiago Boys“ stellt Morozov den „Chicago Boys“ gegenüber. Das waren die wirtschaftsliberalen Ökonomen aus der Chicagoer Schule, benannt nach deren einflussreichen Wissenschaftlern an der Universität von Chicago wie Milton Friedman.
Morozov puzzelte die Geschichte eines Allende-Projektes zusammen, das die kleine Gruppe der Tech-Linken bis heute träumen lässt: Cybersyn – ein Versuch, die Wirtschaft des Landes datengetrieben zu steuern. Planwirtschaft als riesige, digitale Maschine. Cybersyn sollte ein Problem lösen, das schon vor einem Jahrhundert diskutiert wurde: Sollte Sozialismus – oder gar Kommunismus – überhaupt funktionieren, braucht es Unmengen praktisch perfekter Daten über Produktion und Nachfrage. Und ein System, das diese schnell verarbeiten und die Wirtschaft steuern kann. […]
Morozov sagt: „Chile hätte das Südkorea oder Taiwan der 70er und 80er werden können, aber mit einem progressiven, sozialistischen Ansatz.“ […] Auch Morozov empfiehlt, den Zugang zu KI ohne die Konzerne zu demokratisieren. Dann ließe sich auch mit Planwirtschaft experimentieren, aber bitte dezentral und „Apparatschik-frei“, das sei dank digitaler Technik heute möglich.
Jannis Brühl, sueddeutsche.de, 18.09.2024 (online)