„Filterblasen aufbrechen“ war lange ein sehr beliebter Slogan. Ich habe das schon immer für einen Irrtum gehalten, weil ich die besten, produktivsten und intellektuell stimulierendsten Debatten im Kontext geschlossener Benutzergruppen habe. Aber das Aufbrechen war allgemein sehr populär, Filterblasen wurden als böse und Horte von Radikalisierung und Gehirnwäsche gesehen. Dabei wurden typischerweise algorithmische „slipery slopes“ – also der Effekt, dass Youtube einen unweigerlich mit Hohlerde-Echsenmenschen-5G-Impfchip-Videos versorgte, sobald man einmal „Mondlandung“ als Suchwort eingegeben hatte – mit Filterblasen im Sinne der eigenen Informations-Hygienie verwechselt. Algorithmische Radikalisierung zur Werbeoptimierung zu unterbinden ist gut und richtig. Aber zu verkennen und negieren, dass Menschen nur ein gewisses Maß an von ihren Überzeugungen, Werten und Ansichten stark abweichenden Informationen und Meinungen aushalten und sich damit beschäftigen können, ist falsch. […]
Jeder Mensch hat einen Schwellwert, bis zu dem er von seinen Überzeugungen, Meinungen, Werten abweichende Interaktionen interessant und bereichernd findet. Wird der Wert überschritten tritt unweigerlich Abschottung und Feindseligkeit auf. Wie hoch der Schwellwert bei jedem einzelnen ist, hängt von dem Gefühl der Sicherheit der eigenen Stellung im sozialen Umfeld ab, wahrscheinlich auch von der eigenen materiellen, existenziellen Sicherheit und der wahrgenommenen Stellung innerhalb der Hierarchien der Gesellschaft. Ein gutverdienendes Mitglied der gesellschaftlichen Eliten hat eine viel größere Kapazität dafür, sich mit anderen Ansichten auseinanderzusetzen und sie sogar als intellektuelle Bereicherung im Sinne der Schärfung der Argumente anzusehen, als eine ökonomisch unsichere Angehörige einer marginalisierten Gruppe.
Was folgt nun daraus? Lasst uns mehr Filterblasen wagen. Mehr kleinere, gemütliche, überschaubare digitale Räume aufbauen. Nicht als direkten Ersatz für die Plattformen mit globaler Reichweite, die vielleicht in mutierter Form weiter ihre Berechtigung als Publikations-Medien behalten werden, sondern als parallele Alternative, für das wofür wir ursprünglich mal die „sozialen Medien“ gut fanden.
Frank Rieger, Realitätsabzweig, 6.11.2022 (online)