Zweimal, zuerst aus dem Mund von Ilko-Sascha Kowalczuk und später im Statement einer Zuhörerin, klingt es beinahe, als missgönne man Oschmann seinen Lebenslauf. In dem er, 1967 in Gotha geboren, sein Germanistikstudium schon im vereinigten Deutschland abschloss, in den USA geforscht und gelehrt hat, eine weltläufige akademische Karriere hingelegt hat und, wie er selbst sagt, sich erst seit fünf Jahren mit dem Konflikt der Ost- und Westdeutschen beschäftigt. Während, so Kowalczuk, „Dummköpfe wie ich“ ihr Leben mit der Aufarbeitung der DDR, der Wende, der Neunzigerjahre verbracht hätten. Er sagt es, als habe ihn das eine Karriere gekostet.
Wie man es auch halten mag mit solchen Biografie-Vergleichen, drängt sich im Laufe des Abends stark der Eindruck auf, es sei den Menschen im Publikum weniger wichtig, ihre Meinung zu sagen, als ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Sie stehen auf, nennen Namen und Jahrgänge, überwiegend in den Sechzigerjahren geboren, und sagen, wie es war nach der Wende: Alleinerziehend. Umgeschult. Einen Großbetrieb in die Privatisierung geführt, von 2814 Beschäftigten waren danach noch 253 übrig, „eigentlich kein Ruhmesblatt“, sagt einer, aber die Firma gebe es immerhin noch. In der Oberlausitz erlebt, wie die Textilindustrie geschrumpft wurde und dabei vier Kinder groß gekriegt. Sie reden von sich, und ein Raum voller Leute, auch die Experten auf der Bühne, hören zu. Es wirkt wie ein Safe Space im besten Sinne für Ostdeutsche, viele Ältere.
Diese Form der Anerkennung ist eben nicht nur Gruppentherapie, sie ist ein politischer Vorgang. Weil sie gegen die oft beschworene Spaltung wirkt, gegen den Eindruck, Teile der Gesellschaft seien so unterschiedlicher Meinung, als lebten sie nicht mehr in derselben Welt. Man kann auf eine Lebensgeschichte lange nicht so ablehnend reagieren wie auf eine Meinung, kann schlecht sagen, damit liegst du völlig falsch.
Marie Schmidt, sueddeutsche.de, 06.08.2024 (online)