Wenn dieser Tage immer mal wieder über Konzerte berichtet wird, die abgebrochen wurden oder nicht zustande kamen, weil jemand das Motiv einer kulturellen Aneignung aufgespürt und skandalisiert hat, ist das zuallererst das Problem einer verunsicherten Umgebung, die eine Störung nicht als Störung betrachtet, sondern sie als berechtigtes Anliegen adelt. In der medialen Öffentlichkeit überragt leider die Lust an der Empörung, hinter der die Auseinandersetzung mit der künstlerischen Darbietung bis zu deren Unkenntlichkeit verschwindet. Längst ist die sogenannte Cancel Culture nicht nur ein Phänomen derer, die auf gesellschaftliche Diversität pochen und dabei übersehen, dass sehr ihre Beharrlichkeit selbst rassistische Züge anzunehmen droht. Die Hoffnung auf eine Art diskursive Gelassenheit mag naiv sein, kann vorübergehend aber dazu beitragen, die Nerven zu schonen.
Wenn abwechselnd die Heroen einer überwiegend weißen Kunst- und Kulturgeschichte von Kant bis Elvis Presley verdächtigt werden, rassistische Haltungen gehegt oder geäußert zu haben, dann ist das kein Grund, gereizt die aufklärerischen Instrumente aus dem Fenster zu werfen. Kunst und Philosophie beziehen ihre Lebendigkeit aus Kontextualisierung, Neubewertung und Wiederaneignung. Das Motiv, das hinter dem inzwischen inflationär zirkulierenden Vorwurf der kulturellen Aneignung steckt, ist nicht verwerflich. Es geht um die Sensibilisierung für das weite Feld menschlicher Begegnungen und den wechselseitigen Respekt, den das erfordert. Die Geschichten, die daraus hervorgehen können, sind nicht zuletzt Quellen für Kunst und Kreativität. Die Geschichte von Blue Note Records ist das industrielle Produkt einer kulturellen Aneignung und viel mehr als das handelt sie von der Kraft sozialer Empathie.
Harry Nutt, Berliner Zeitung, 28.7.2022 (online)