Die Attraktivität von Thinktanks in der Medienöffentlichkeit ist ein in dieser Dichte neues Phänomen, und wenn man sich die Geschichte der Institution vergegenwärtigt, die im Deutschen meist mit „Denkfabrik“ übersetzt wird, erscheint diese Entwicklung fast paradox. Etabliert hat sich der Begriff im militärischen Vokabular der USA zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, als ein geheimer, abhörsicherer Raum am Kriegsschauplatz, an dem die kommenden Kampfstrategien erdacht wurden. […]
Gleichzeitig stehen die öffentlichen, in jüngster Zeit zunehmend interventionsfreudigen und aktivistischen Thesen der Thinktank-Experten in deutlichem Widerspruch zur Geschichte und Aufgabe ihrer Institution. […]
Solange Thinktanks bewusst im Geheimen operierten, waren auch Fragen ihrer Finanzierung und politischen Einflussnahme kein Gegenstand der öffentlichen Debatte. Jetzt, da die Repräsentanten der Denkfabriken fast täglicher Gast in Nachrichtensendungen und Talkshows sind, da die Grenzen zwischen dem wissenschaftlichen Experten, dem politischen Lobbyisten und dem meinungsstarken Aktivisten verfließen, werden diese traditionell undurchsichtigen, konspirativen Strukturen der Institution zum Problem. […]
Diese wechselseitige Verstärkung von „Expertokratie“ und Populismus – zwei Regierungsformen, die demokratische Institutionen überspringen – lässt sich derzeit auch in den medialen Debatten um den Klimawandel verfolgen. In dem Maße, in dem die Diagnosen von beratenden Experten politischen Konsens unmittelbar herstellen sollen, schwillt ein demokratiefeindlicher Protest an, der mit der Leugnung der wissenschaftlichen Befunde auch das politische System insgesamt infrage stellt. […]
Der Experte ist der Intellektuelle des 21. Jahrhunderts. Nur was ihn und seinen Thinktank genau antreibt, diese Information sind die Nachrichtensendungen ihrem Publikum zwingend schuldig.
Andreas Bernard, sueddeutsche.de, 21.07.2023 (online)