Man sieht, dass selbst der auf Angriff und Alarm gebürstete Reichelt nicht herumzureißen vermochte, was schon unter seinen Vorgängern zu beobachten war: dass die „Bild“-Zeitung ein Milieuproblem hat. Eine Crew von jungen, gut ausgebildeten, witzigen und weltanschaulich offenen Journalisten, die dann vor allem reißerische Storys produzieren, das wirkt nicht nur wie eine Vergeudung von Talent, sondern – weil man dann eben doch nicht puren Stammtisch liefert – im Ergebnis auch austauschbar (und tatsächlich haben einige der Porträtierten die Redaktion bereits wieder verlassen). Dass die „Bild“ längst nicht mehr das rechtskonservative Agitationsblatt ist, gegen das Linke von Heinrich Böll bis Wiglaf Droste Sturm liefen, ist keine neue Einsicht. Unter Reichelt aber weiß man heute noch weniger, wofür die „Bild“ denn politisch, gesellschaftlich und journalistisch steht – außer für die Neuigkeit an sich. Wie der Chef sagt: „Da sein, wo es gerade geschieht“. Es ist für Politiker damit sehr leicht, dieses Medium mit durchgesteckten Informationen in eigener Sache zu nutzen.
Oliver Jungen, faz.net, 18.12.2020 (online)