Mitschuldig sind die Meinungsforscher. Vor ein paar Jahrzehnten haben sie das nebulöse Wort „Vertrauen“ als Marker entdeckt. Seither verwenden sie es wie ein Fiebermesser, um periodisch das Verhältnis der Bevölkerung zu Staat, Wirtschaft, Politik, Parteien, Versicherungen, Medien, Kirche, Polizei usw. zu ermitteln.
Wir lesen dann groß aufgemachte Schlagzeilen darüber, dass unser „Vertrauen“ in die Regierung auf dem tiefsten Stand, jenes „in die Medien“ stabil geblieben oder das in die Polizei weiter gestiegen sei. Was sagen uns diese Fieberkurven? Eigentlich dies: Je höher das Vertrauen, umso sorglos-naiver – zugespitzt: umso kindlicher – empfinden die Menschen. Totales Vertrauen bedeutet komplette Unmündigkeit. Oder vorbehaltlose Hingabe. […]
Beispielsweise fanden Ende 2022 mehr als ein Viertel der Befragten, sie würden von den Medien „systematisch belogen“. Knapp die Hälfte meinte, „Medien und Politik arbeiten Hand in Hand, um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren“ – ein großer Teil davon wählte die Kategorie „teils, teils“.
Und knapp zwei Drittel stimmten dieser Aussage zu: „In meinem persönlichen Umfeld nehme ich die gesellschaftlichen Zustände ganz anders wahr, als sie von den Medien dargestellt werden“. Auch hier rund die Hälfte mit „teils, teils“. […]
Wenn nach konkreten Erfahrungen und Einschätzungen gefragt wird, bekommt man auch klare Antworten. Sie zeugen von einer tief sitzenden Medienskepsis, die in der Erfahrung wurzelt, dass die in den etablierten Newsmedien erzählten Geschichten mit der Lebenswelt der Befragten kaum noch Berührung haben (was kein Grund zur Sorge ist, denn Skepsis ist eine Haltung, die sich mit der Medienerfahrung erwachsener Menschen wie von selbst einstellt – und aus meiner Sicht eher ein Zeichen für Mündigkeit ist).
Michael Haller, telepolis.de, 18.05.2023 (online)