An der Berichterstattung über das Miniboot Marke Eigenbau namens Titan befremdete die Inszenierung einer kontinuierlichen Rettungsberichterstattung samt des obszönen Countdowns des verbleibenden Sauerstoffvorrats. Tagelang wurde die Öffentlichkeit damit in Atem gehalten, dabei war das Boot schon längst zerstört. Und wie sich nun herausstellt, wusste eine ganze Reihe von Diensten und Experten nicht allein um diese Möglichkeit, sondern hielt es für sehr wahrscheinlich, dass es vorbei war für die Titan und ihre Insassen. In den Medien aber ging es weiter, bis der Gegenbeweis erbracht war, vielleicht einer Form modernen Aberglaubens folgend: als würde es den armen Insassen vielleicht Unglück bringen, wenn man über ihren Untergang spekuliert. […]
Nie waren Medien, im großen wie in kleinem Format, so mächtig, so allgegenwärtig. Und nie fiel es derart auf, wenn sie nichts zu erzählen haben. Weil sie, um die großen Einsätze, um die es im Digitalkapitalismus geht, zu sichern und in der Konkurrenz zu bestehen, sich vor allem danach richten, was die anderen Medien in dieser Sekunde gerade so machen: Nur nicht hintendran wirken, nichts von den maßgeblichen Zahlen verlieren, auch nicht für kurze Zeit und nichts riskieren!
Das große Medienzeitalter ist auf diese Art und Weise sehr, sehr spießig geworden. Es bedrückt durch ein schmales Angebot, mit dem man vermeintlich auf Nummer sicher geht und durch einen Mangel an jenen Qualitäten, die am Beginn der Geschichte des Journalismus standen: Neugier, Fantasie und Risikobereitschaft.
Nils Minkmar, sueddeutsche.de, 27.06.2023 (online)