Boykottaufrufe, Übernahmefantasien und die Einschüchterung von Mitarbeitern: Wie die neue Rechte Wikipedia auf Linie bringen will. […]
Sowieso hat sich der Blick auf die kollaborative Enzyklopädie im Laufe der Jahre gewandelt. Warnten zu den Anfangszeiten besorgte Lehrer ihre Schüler noch vor der Wikipedia, ist sie in Zeiten von KI-Müll und waffenfähigen Fake News zu einer für Internetverhältnisse erstaunlich glaubwürdigen Quelle geworden. Seit vielen Jahren rangiert Wikipedia unter den Top Ten der meistbesuchten Internetseiten weltweit und in den Top 50 der Rangliste ist sie sogar die einzige, die von einer Non-Profit-Organisation betrieben wird.
Wer ein wenig zur Überhöhung neigt, könnte sogar sagen, die Wikipedia ist einer der wenigen Orte im Netz, die sich das techno-utopische Versprechen der 1990er-Jahre bewahrt haben. In einer Diskursumwelt, die immer mehr von Aggression und Spaltung geprägt ist, ist die Idee eines komplett nutzergenerierten Kompendiums menschlichen Wissens vielleicht sogar noch außergewöhnlicher und unerhörter als beim Start 2001. […]
Trotz ihrer Größe und Unübersichtlichkeit zeigt sich die Enzyklopädie dann auch erstaunlich resilient gegenüber den Attacken von rechts. Die im System fest verbaute Transparenz macht Manipulationen schnell sichtbar und korrigierbar. Jede Änderung wird öffentlich festgehalten und zur Diskussion gestellt. So bestimmen selbst Anordnungen von Regierungen oder Milliardären nicht, welche Inhalte online bleiben und welche nicht. Zu den vier Grundprinzipien, welche die Gründer ihrem Projekt verordnet haben, gehören neben der Freiheit der Inhalte die Aufrechterhaltung der Neutralität und das Bekenntnis, keine persönlichen Angriffe zu fahren. Alles in allem handelt es sich also um den Gegenentwurf zum Verhalten neurechter Internetnutzer.
Michael Moorstedt, sueddeutsche.de, 05.05.2025 (online)