Bemerkenswerte intellektuelle Energie und nicht geringe institutionelle Ressourcen sind dabei vor allem von linker Seite in eine stetig anwachsende Deutungsindustrie geflossen, der es darum zu tun ist, den Siegeszug der AfD mit den Sorgen und Nöten unterprivilegierter Sozialmilieus in Verbindung zu bringen. Zwar belegen mittlerweile zahlreiche wahlsoziologische Analysen, dass die Rechtsnationalen bei praktisch allen gesellschaftlichen Gruppen punkten konnten und ihre Kernwählerschaft unter Selbstständigen und in Mittelschichtsmilieus haben. Gleichwohl vergeht nach wie vor kaum ein Tag, an dem nicht das große „Aufbegehren der Abgehängten“ beschworen wird. Im selben Atemzug folgt die Mahnung, die von entkoppelten Eliten enttäuschten und über neoliberale Politik empörten Protestwählenden wieder zurückzugewinnen. Was in der Regel bedeutet, der AfD auf den Mund zu schauen und zumindest schon mal rhetorisch mehr „Patriotismus“ (Cem Özdemir), „Heimat“ (Sigmar Gabriel) oder schlicht „Deutschland“ (Sahra Wagenknecht) zu wagen.
Stephan Lessenich, sueddeutsche.de, 02.01.2018 (online)