Er sagte in seiner Rede zu „Perspektiven der europäischen Idee“, dass es „einen gemeinsamen Diskussionsort für das demokratische Miteinander“ geben muss:
„Eines der Hauptprobleme bei der Herausbildung einer engeren europäischen Gemeinschaft scheint mir die unzureichende Kommunikation innerhalb Europas zu sein. Und damit meine ich eigentlich weniger die Ebene der Diplomatie, als vielmehr den Alltag der Bevölkerung, richtiger der Bevölkerungen.
Bis heute nimmt jedes der 27 Mitgliedsvölker dieselben europäischen Verträge oft auf sehr unterschiedliche Weise wahr. Die Berichterstattung der Medien erfolgt fast ausschließlich unter nationalen Gesichtspunkten. Das Wissen über die Nachbarn ist immer noch gering – von einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Studierenden, Geschäftsleuten, Intellektuellen und Künstlern einmal abgesehen. Europa hat bislang keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, die sich mit dem vergleichen ließe, was wir national als Öffentlichkeit beschreiben.
Zunächst fehlt uns dazu einfach eine gemeinsame Verkehrssprache. In Europa sind 23 Amtssprachen anerkannt, zahllose andere Sprachen und Dialekte kommen noch hinzu. Ein Deutscher, der nicht auch Englisch oder Französisch spricht, wird sich kaum mit einem Portugiesen verständigen können, ebenso wenig mit einem Litauer oder Ungarn. Es stimmt ja: Die junge Generation wächst ohnehin mit Englisch als Lingua franca auf. Ich finde aber, wir sollten die sprachliche Integration nicht einfach dem Lauf der Dinge überlassen. Mehr Europa heißt nämlich nicht nur Mehrsprachigkeit für die Eliten, sondern Mehrsprachigkeit für immer größere Bevölkerungsgruppen, für immer mehr Menschen, schließlich für alle! Ich bin überzeugt, dass in Europa beides nebeneinander leben kann: die Beheimatung in der eigenen Muttersprache und in ihrer Poesie und ein praktikables Englisch für alle Lebenslagen und Lebensalter.
Mit einer gemeinsamen Sprache ließe sich auch mein Wunschbild für das künftige Europa leichter umsetzen: eine europäische Agora, ein gemeinsamer Diskussionsraum für das demokratische Miteinander. Diese Agora wäre noch umfassender, als die Schülerinnen und Schüler sie vielleicht aus dem Geschichtsbuch kennen, den im antiken Griechenland zentralen Versammlungsort, Kult- und Gerichtsplatz gleichzeitig, einen Ort des öffentlichen Disputs, wo um das geordnete Zusammenleben gerungen wurde.
Wir brauchen heute ein erweitertes Modell. Vielleicht könnten ja unsere Medienmenschen, könnte unsere Medienlandschaft so eine Art europafördernde Innovation hervorbringen, vielleicht so etwas wie Arte für alle, einen Multikanal mit Internetanbindung, für mindestens 27 Staaten, 28 natürlich, für Junge und Erfahrene, Onliner, Offliner, für Pro-Europäer und Europa-Skeptiker. Dort müsste mehr gesendet werden als der Eurovision Song Contest oder ein europäischer Tatort. Es müsste zum Beispiel Reportagen geben über Firmengründer in Polen, junge Arbeitslose in Spanien oder Familienförderung in Dänemark. Es müsste Diskussionsrunden geben, die uns die Befindlichkeiten der Nachbarn vor Augen führten und verständlich machten, warum sie dasselbe Ereignis unter Umständen ganz anders beurteilen als wir. Und in der großen Politik würden dann nach einem Krisengipfel die Türen aufgehen, und die Kamera würde nicht nur ein Gesicht suchen, sondern die gesamte Runde am Verhandlungstisch einblenden.
Ja, ob nun mit oder ohne einen solchen TV-Kanal: Wir brauchen eine Agora. Sie würde Wissen vermitteln, europäischen Bürgersinn entwickeln helfen und auch Korrektiv sein, wenn nationale Medien in nationalistische Töne verfallen, ohne Sensibilität oder Sachkenntnis, über den Nachbarn berichten und Vorurteile fördern. Ich weiß, dass viele Medienkonzerne die europäische Öffentlichkeit schon zu stimulieren versuchen, mit Beilagen aus anderen Ländern, mit Schwerpunktthemen zu Europa und vielen guten Ideen. Ich weiß das. Aber bitte mehr davon – mehr Berichterstattung über und mehr Kommunikation mit Europa!
Wir sprechen gerade über Kommunikation. Kommunikation ist für mich kein Nebenthema des Politischen. Eine ausreichende Erläuterung der Themen und Probleme, sie ist vielmehr selbst Politik. Eine Politik, die mit der Mündigkeit der Akteure auf der Agora rechnet und die Bürger nicht als untertänig, desinteressiert und unverständig abtut.
Der frühere Vorsitzende der Historischen Kommission der ARD, Dietrich Schwartzkopff, meinte dazu: „Joachim Gaucks televisionärer Vorschlag erscheint angesichts all dessen mehr als Wunschdenken denn als praktikable Möglichkeit. Die Freunde verbesserter intereuropäischer Kommunikation zur Förderung eines gesamteuropäischen Bürgerbewusstseins können sich hingegen viele Probleme und Streitigkeiten ersparen, wenn sie auf den Gedanken eines gesamteuropäischen Fernsehprogramms verzichten und stattdessen Folgendes anstreben würden: die Umsetzung des Gauck-Programms – teilweise zunächst, dann sukzessive – in den jeweiligen nationalen Programmen, in Absprache zwischen ihnen (was ohne zusätzliche Bürokratie gehen müsste). Das müsste ergiebiger sein als eine neue zentrale Organisation.“