Mediatuesday@taz: „Recherchieren ist eine Zier, mehr verdient man ohne ihr?“ Erfundene Interviews, kopierte Zitate – kann man sich auf die Medien noch verlassen?

Berlin, 08.06.2010

 

Kann man sich auf die Medien noch verlassen? Wie verbreitet ist es eigentlich, dass Journalisten voneinander abschreiben und Interviews erfinden? Werden Medien ihrer Funktion als vierte Gewalt im Staat noch gerecht oder übernehmen diese Aufgabe zunehmend Freitzeitblogger und Privatinitiativen wie zum Beispiel das Projekt Wikileaks? Um diese groß gewählten Fragen sollte es am 08. Juni beim Mediatuesday im gut besuchten Berliner Tazcafé gehen.

 

Es diskutierten: Christian Bommarius, leitender politischer Redakteur der Berliner Zeitung; Thomas Leif, Chefreporter des Südwestdeutschen Rundfunks und Vorsitzender der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche; Daniel Schmitt, Vertreter der Webseite Wikileaks; Moderation: Sebastian Heiser, taz.

 

Glücklicherweise gab es eine Reihe aktueller Anlässe, an denen man sich abarbeiten konnte, so dass die Diskussion nicht nur in theoretischen Allgemeinaussagen mündete. Den Auftakt des Gesprächs bildete die brisante Verhaftung des US-Soldaten Bradley Manning, der vor einigen Wochen das Aufsehen erregende Irak-Video auf die Webseite Wikileaks hoch geladen hat. Das Video, aufgenommen aus einen US-amerikanischen Kampfhubschrauber, zeigt einen brutalen Angriff des US-Militärs auf Zivilisten im Juli 2007 und bringt die dazu geäußerten zynischen Kommentare eines US-Soldaten ans Licht der Öffentlichkeit. Zu den mindestens zwölf Menschen, die damals starben, gehörten auch zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters.



Einen Tag vor dem Mediatuesday wurde der 22jährige Soldat in Untersuchungshaft genommen. Die Begründung lautete: Er habe Dokumente veröffentlicht, die die amerikanische Sicherheit gefährden. Was da schief gegangen sei, wollte taz-Moderator Heiser direkt von dem Vertreter von Wikileaks auf dem Podium wissen, der mit dem Pseudonym Daniel Schmitt auftritt. Ist, wie die Zeitungen vermuten, die Webseite und Organisation Wikileaks unsicher? Sind Informanten nicht doch besser beraten, wenn sie sich erfahrenen Journalisten anvertrauen?


 

Der Wikileaks-Vertreter zeigte ich um keine Antwort verlegen. Der Fehler lag nicht bei den Mitarbeitern oder der technischen Infrastruktur von Wikileaks, erklärte er. Der Informant hätte selbst den Fehler begangen, dass er mit Menschen über sein Vorgehen gesprochen habe, denen er sich nicht hätte anvertrauen dürfen, so Schmitt. Jeder Informant, der mit Mitarbeitern von Wikileaks Kontakt aufnähme, würde darin beraten, mit niemandem anderen darüber zu sprechen. Der 22jährige Soldat hatte das Dokument einfach nur hochgeladen, ohne sich beraten zu lassen.

„Sie werden auch zunehmend mit Fakes zu tun haben!“, warf der lang gediente Redakteur der Berliner Zeitung Christian Bommarius in die Gesprächsrunde ein. Es klang fast ein wenig wie ein Schuldeingeständnis, als Bommarius einräumte, dass das investigative Aufdecken von Missständen eigentlich die Aufgabe von Journalisten sei, dies aber in der deutschen Publizistik nie sehr gut funktionierte, und zwar weder bei seinem Medium, noch bei der taz. „Die deutschen Medien reden fortlaufend über investigativen Journalismus, aber keiner tut es, deswegen dürfen wir dankbar sein, dass es Wikileaks gibt. Peinlich ist, dass wir sogar dankbar sein müssen, weil wir keine anderen Mittel dagegen setzen können.“ An diesem Punkt der Diskussion hätte man denken können: Jetzt ist der Journalismus in Deutschland wirklich am Ende, wenn sogar Journalisten selbst nicht mehr an ihre eigene Arbeit glauben.

Zum Glück kam der Einwand von Thomas Leif, noch seine für ihn die Süddeutsche Zeitung und der Spiegel diejenigen Medien mit dem größten „Trampolineffekt“ für Informanten. Wikileaks wird vielleicht auch irgendwann in die Riege aufsteigen. Doch soviel Relevantes entdecke er auf Wikileaks bisher nicht. „Es gibt dort auch viel Müll, Informationen, die kein Mensch lesen kann, weil sie nicht strukturiert und veredelt sind.“ Die Soldatengeschichte sei deswegen ein voller Erfolg für Wikileaks, weil sie visualisierbar gemacht habe, was viele amerikanische Autoren schon längst in Büchern verarbeitet haben und Menschen favorisieren nun mal Bewegtbilder, da sie weniger komplex seien als Texte.

 


Dennoch bescheinigte der Chefreporter des Südwestrundfunks gerade dem deutschen Hauptstadtjournalismus „Verwahrlosung“ und machte seine Behauptung am aktuellen Fall des Köhler-Rücktritts fest. Er vermisse die Berichterstattung darüber, dass es fundamentale Veränderungen im Weltbild des Bundespräsidenten während seiner Amtszeit gegeben habe, die ihm zum Rücktritt bewegt haben. Er habe sich „vom neoliberalen Messias zu einen Kritiker gegenüber den Banken entwickelt.“ Nach Leif gab es in den Medien lediglich eine Mainstream-Analyse, in der das „Wording und Mobbing“ aus dem Kanzleramt und der CDU-Fraktion kritiklos übernommen wurde, so Leif. Die Medien sprachen durchweg von „Fahnenflucht“, inhaltliche Aspekte, spielten bei der Analyse kaum eine Rolle. In der gleichen Woche verkündeten viele Medien, dass Ursula von der Leyen seine Nachfolgerin werden würde, dies wurde von denselben Medien niemals korrigiert. Leifs Fazit dazu: Wenig Recherche, kaum Selbstreflexion und keine Selbstkritik. Der Hauptstadtjournalismus habe sich instrumentalisieren lassen. Er habe wenig exklusive Kontakte und folge geradezu blind einem Herdentrieb.

 

Es war im Großen in Ganzen eine anregende Diskussion, in der es hin und wieder zu einem direkten Schlagabtausch kam. Letztlich löste sich der Widerspruch zwischen dem Zeitdruck von tagesaktuellen Medien und dem hohen Anspruch, reflektierten, investigativen Journalismus zu liefern auch im Laufe der Diskussion nicht auf. Nur soviel: Um investigative Recherchen zu ermöglichen müssten für Journalisten auch Freiräume geschaffen werden. Das Ausbrechen aus dem täglichen Hamsterrad, gepaart mit einer großen Portion Neugierde und einem eisernem Willen sind die besten Zutaten für investigativen, guten Journalismus. Hängen blieb von der Diskussion aber auch das Bild des „perfekten Informationsmanagers“, der das Vertrauen seiner Informanten gewinnt und sie anschließend aussaugt.

Zum Nachhören der gesamten Veranstaltung:

{accesstext mode=“level“ level=“author“} Um die Audio und Videodateien des Artikels abspielen zu können, müssen Sie sich anmelden. || >{mp3}Fuer RLS_Mediatuesday_Mittschnitt{/mp3}< {/accesstext}

 

Im Vorfeld des Mediatuesdays gab es noch eine Buchpräsentation mit anschließender Diskussionrunde im Café Einstein genau zu diesem Thema. Das Buch von Leif Kramp und Stephan Weichert: „Die Meinungsmacher. Über die Verwahrlosung des Hauptstadtjournalismus“ ist im Verlag Hoffmann und Campe erschienen.

Interview mit Thomas Leif über die Gründe der „Verwahrlosung des Hauptstadtjournalismus“:

{accesstext mode=“level“ level=“author“} Um die Audio und Videodateien des Artikels abspielen zu können, müssen Sie sich anmelden. || >{mp3}Interview mit TL_fuer_RLS{/mp3}< {/accesstext}

 

Fazit:

Wissenswert: ****
Unterhaltungswert: ***
Kontaktwert: **
Ambiente: ***

Onlinefilm.org

Zitat der Woche
Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
Out of Space
Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)