Hans Magnus Enzensberger hat diese Entwicklung schon im März 1970 in seinem „Kursbuch“-Essay „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ beschrieben: „Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewusstseins-Industrie zum Schrittmacher der sozio-ökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften geworden. Sie infiltriert alle anderen Sektoren der Produktion, übernimmt immer mehr Steuerungs- und Kontrollfunktionen und bestimmt den Standard der herrschenden Technologie.“ Enzensberger war sich sicher, dass ab einer gewissen Größe ein „Kommunikationszusammenhang“ nicht mehr kontrollierbar sei. Denn seine „Undichtigkeit“ erfordere einen Monitor, der größer sein müsste als das zu überwachende System selbst. Das Kontrollregime erlebe letztlich eine Überforderung und könne sich nur noch durch polizeiliche oder militärische Mittel helfen: „Der Ausnahmezustand ist also die einzige Alternative zur Undichtigkeit der Bewusstseins-Industrie. Er kann aber nicht auf längere Sicht festgehalten werden.“
Enzensberger dachte bei den „Medien“ noch nicht ans Internet – und doch liest sich seine Theorie wie eine Vorhersage der heutigen Möglichkeiten. Seine Theorie konnte noch von einer systemimmanenten „Undichtigkeit“ ausgehen: dass das Wachstum des Mediums also immer größer ist als das der Kontrollpotentiale. Die Erfahrungen aus China, wo das Regime inzwischen auf hunderttausende Netzsoldaten an Personalcomputern setzt, und aus den USA, wo gewaltige Filtermaschinen und der Zugriff auf die Nervenbahnen und Schnittstellen der Internets durch eine Allianz williger Staaten die totale Ausforschung unserer Kommunikation vorbereiten, bringen diese Kernthese von Enzensbergers Theorie allerdings ins Wanken. Ob der Kampf gegen die „Undichtigkeit“ des Systems Erfolg haben könnte, wird zunehmend eine Frage der investierten Mittel – und der politischen Kultur, von China über Russland bis zu den Vereinigten Staaten.
Zitiert von Bernd Reheberg in Blätter, 9/2013, S. 46