Wenn wir die Umfragen über Jahrzehnte anschauen, haben wir in der Bundesrepublik immer einen relativ starken rechten Rand gehabt. Rechte Akteure sind dann in den 1990er Jahren massiv nach Ostdeutschland gegangen, um Strukturen aufzubauen, weil es dort noch keine starke Zivilgesellschaft gab. Die Folgen sieht man heute. […]
Im sozialen Alltag kann die sogenannte Brandmauer kaum aufrechterhalten werden. Wenn rund 30 Prozent der Menschen in Ostdeutschland AfD wählen, sind sie auch Teil des Freundes- und Verwandtschaftskreises oder von Vereinen. Da gibt es täglich soziale Berührungspunkte. Deshalb ist es schwierig, diese Menschen zu dämonisieren. So gibt es in vielen ostdeutschen Kommunen durchaus eine Normalisierung im Umgang mit der AfD. […]
In Ostdeutschland leben nur noch rund 13,5 Millionen Menschen von ehemals 18 Millionen. Das heisst, es gibt eine demografische Schrumpfgesellschaft, die überaltert und vermännlicht ist. Es fehlen Menschen, die Flexibilität ausstrahlen und veränderungsbereit sind. Das macht sich jetzt in den politischen Einstellungen stark bemerkbar. […]
Es gibt nicht die eine ostdeutsche Identität, sondern nur Identität im Plural. Das identitätspolitische Vakuum in Ostdeutschland hat lange die PDS/Linkspartei ausgefüllt. Heute gibt es Ostdeutschland-Rufe, wenn die AfD durch die Berliner Friedrichstrasse marschiert. Das Megafon hält dann jemand aus Baden-Württemberg. Ostdeutschland wird ausgerufen, aber eigentlich ist Kulturkampf gemeint.
Steffen Mau, nzz.ch, 10.10.2023 (online)