Das ist mir noch nie passiert, dass mir jemand eine Merkel-Rede empfohlen hat, aber ich habe auch noch nie so eine Rede von der Kanzlerin gehört.
Sie ging los, wie diese Reden immer losgehen. Merkel hat den Mut der Demonstranten gelobt, Politiker der deutschen Einheit gewürdigt, aber dann ist etwas Unglaubliches passiert:
Merkel begann über sich als Ostdeutsche zu sprechen, darüber, dass sie und ihre Landsleute sich auch drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit immer wieder neu beweisen müssen, „als sei die Vorgeschichte, also das Leben in der DDR eine Art Zumutung“.
Sie zitierte aus einem Beitrag für die Konrad-Adenauer-Stiftung, in dem über sie, die Kanzlerin, geschrieben wurde, dass sie „als 35-Jährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biografie in den Wendetagen zur CDU kam“. Ballast also, sagte die Kanzlerin und hatte gleich noch ein Zitat parat, diesmal aus dem Duden: Ballast sei eine unnütze Last, eine überflüssige Bürde, die abgeworfen werden kann. Und fügte hinzu, solche Bewertungen müsse sie immer wieder erleben. …
Weil ich spürte, welchen Mut es sie kostete, diese Rede zu halten, die sie nie halten konnte in 16 Jahren Kanzlerschaft. Weil ich ahnte, wie sie sich in dieser von den Westdeutschen bestimmten Gesellschaft selbst schützen musste, nicht angreifbar machen durfte.
Anja Reich, Berliner Zeitung, 03.10.2021 (online)