Es ist also theoretisch möglich, dass in den vergangenen Wochen und Monaten sehr viel mehr Politiker angespuckt, bedroht und beleidigt worden sind als in den vergangenen Tagen, dass das aber zu dieser Zeit nichts war, was über eine Polizeimeldung oder eine kleine Nachricht im Lokalen hinauskam.
Das ist der eine Teil der Medienmechanik. Die Aufmerksamkeit ist so groß, dass sie neue Aufmerksamkeit nach sich zieht, in allen möglichen medialen Formen. Das liegt unter anderem am Bandwagon-Effekt. Wenn alle Medien berichten, möchte man in der Redaktionskonferenz auf die Frage „Warum haben wir das nicht?“ eine gute Antwort haben.
Wenn ein Thema in Medien allgegenwärtig ist, wird es schnell auch in den Köpfen allgegenwärtig. Und wenn das erst erreicht ist, dann fällt Menschen so etwas in allen möglichen Zusammenhängen sehr schnell ein (Verfügbarkeitsheuristik). Ideale Bedingungen für Nachahmungstaten also. Das ist der andere Teil der medialen Mechanik.
Zu tun hat das viel mit Reflexen. Sabine Rennefanz kritisiert in ihrer „Spiegel“-Kolumne, dass die AfD „reflexhaft“ für Übergriffe auf Politiker beschuldigt werde, obwohl ihre Vertrete seit Jahren stärker von Gewalt betroffen seien. Ihre Diagnose ist: „Die Kommunikation in unserem Land ist gestört.“
Ralf Heimann, MDR Altpapier, 10.05.2024 (online)