Dieser Job ist letztlich eine Anmaßung. Man behauptet, ein Land erklären zu können. Ein so komplexes Gebilde wie die Türkei zum Beispiel, mit 85 Millionen Menschen. Und eins mit, wie sie hier sagen, „zu viel Geschichte“. Man versucht zu verstehen, man liest, man reist, man hört zu. Man verlässt sich natürlich auch auf die Demoskopen, weil die Zahlen anbieten, während man selber nur so stichprobensammelnd durch Anatolien tourt. Macht man das über Jahre, verfolgt man ein Land wie die Türkei länger, kann etwas Gefährliches entstehen. Eine allzu feste Meinung. Oder, in einem Anflug leichter Arroganz, die Annahme, jetzt habe man die Dinge verstanden. Die Türkinnen und Türken sind so oder sie sind so. Sätze, bei denen man erschrecken muss. Müsste. Über sich selbst.
Raphael Geiger, sueddeutsche.de, 04.06.2023 (online)