Als ideologischer Propagandabegriff verschleiert die im Bundestag mit Standing Ovations gefeierte „Zeitenwende“ die Realität. Denn zum einen wird suggeriert, dass die Nato ein mittel- und wehrloser Bettel- und Friedensverein sei, der schutzlos ausgeliefert nun endlich dazu gebracht werden müsse, „wehrfähig, wehrbereit und wehrwillig“ zu sein. Es genügt ein Blick auf die Militärausgaben der Nato-Staaten und Russlands vor und seit dem Ukrainekrieg, um festzustellen, dass die Nato-Staaten zusammen mehr als das Zehnfache für Rüstung und Militär ausgeben als Russland: Im Jahr 2020 waren es bei der Nato 1182,9 Milliarden US-Dollar und bei Russland 65,91 Milliarden US-Dollar. 2023 waren es bei der Nato 1304,9 und bei Russland 109 Milliarden US-Dollar. Allein Deutschland und Frankreich oder Großbritannien zusammengenommen geben für Militär deutlich mehr aus als Russland. Selbst unter Beibehaltung des Status quo und unter Annahme der (falschen) Prämisse, dass mehr Rüstung zu mehr Sicherheit (und Frieden) führt, gäbe es also keinerlei Grund für eine Aufstockung des Wehretats. […]
Das westliche Kriegs- und Aufrüstungsnarrativ ist in jedem Fall paradox: Einerseits wird Putin als böser Wahnsinniger dargestellt, der ganz Europa unterwerfen und angeblich nicht verhandeln will – auch wenn die Verhandlungen in Istanbul und mehrere Äußerungen aus jüngster Zeit das Gegenteil nahelegen. Andererseits muss die „Strategie“ der Eskalation der Lieferung und des Einsatzes von Waffen, die nun auch Ziele in Russland angreifen dürfen sollen, aber darauf basieren, dass Putin kein irrationaler Wahnsinniger ist, der einen atomaren Gegenschlag auf einen Nato-Staat ausführen würde – zumindest falls der Westen keine suizidalen Absichten hat.
Philipp von Becker, berliner-zeitung.de, 21.06.2024 (online)