Streng betrachtet wird eine Boulevardzeitung nie „seriös“ sein können. Sie kann sich bemühen, anständig zu bleiben. Sie ist ja auch eigentlich gar keine Zeitung, sondern ein Unterhaltungsprogramm, das jedem etwas anbietet: dem Politik-Interessierten, dem Fußball-Freak, dem Guten, dem Bösen, dem Ängstlichen, dem Mutigen, dem Voyeur, dem Romantiker. Jeder soll etwas finden, das ihn interessiert, aufregt, niederschmettert oder zum Lachen bringt. Vielleicht sogar einen Trend setzt. Faktenbasierte Emotionen.
Die richtige Mischung aus Fakten, Fiktionen, Tatsachen und Träumereien ist für den Erfolg auf dem Boulevard so wichtig wie das geheime Leberwurst- oder Cola-Rezept. Julian Reichelt hat dieses Rezept nie verstanden, und allein das wäre ein guter Grund gewesen, ihn zu feuern. …
Denn auch Döpfner hat nie verstanden, was das Geheimnis einer Boulevardzeitung ausmacht. Das war schon zu seiner Zeit als Chefredakteur der Hamburger Morgenpost (1996 bis 1998) offensichtlich. Mit dem Intellektuellen Döpfner und dem Intellektuellen-Darsteller Reichelt standen 20 Jahre später zwei auf der Kommandobrücke von Europas größter Zeitung, die den Kompass aus dem Auge verloren haben und in den Nebel der Macht geraten sind.
Georg Streiter, sueddeutsche.de, 21.10.2021 (online)