Das ist eine der großen Märchenerzählungen unserer Zeit, dass unsere Demokratie kurz vor dem Abgrund steht, nur weil Menschen anders wählen, als uns das gefällt. Wir hatten bei den Kommunalwahlen, für die sich sonst eher weniger Leuten interessieren, eine Beteiligung von teilweise über 70 Prozent in Sachsen. Das klingt für mich nicht nach Abgrund, sondern nach einer sehr gesunden Demokratie. […] Ich habe den Eindruck, dass sie umso drastischer in ihrer Untergangstendenz werden, je erfolgloser die sozialliberale Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte agiert. Ähnliche Narrative gibt es über den gesellschaftlichen Zusammenhalt und über die sogenannte Spaltung der Gesellschaft. Nichts davon ist empirisch evident. Nun also das drohende Ende der Demokratie. Sollte das der Versuch sein, die Bürger zu mobilisieren, finde ich das politisch fahrlässig. Was ist das denn dann für eine Wahl? […]
Die Leute wählen also eigentlich nicht Linksbündnis oder noch einmal Macron, sondern sie weichen nur einem befeuerten Untergangszenario aus. Diese negative Mobilisierung kann nicht über einen längeren Zeitraum funktionieren, weil wir damit jeden politischen Wettbewerb aushöhlen. Das ist ein Tiefgriff der Politik auf die Ängste der Zivilgesellschaft. […]
In Görlitz erlebe ich Leute, die sofort sagen, dass sie AfD wählen – damit haben sie die Aufmerksamkeit, kaum dass die Gesprächsrunde angefangen hat. Plötzlich hört man sich ihren Standpunkt an, der vorher einfach weggewischt werden konnte. Dadurch entsteht das Gefühl von Macht und Sichtbarkeit, das die Bürger im vermeintlich abgehängten Osten anders offenbar nicht erreichen können. Diese Komponente dürfen wir nicht unterschätzen. Das ist ein Ausdruck von Emanzipation. […] Stattdessen wählt man jetzt eben AfD oder BSW und merkt auf einmal eine Auswirkung. Das ist politisches Handeln. Damit wird das parlamentarische System nicht unterhöhlt oder unterwandert, sondern in Bewegung gesetzt.
Lukas Rietzschel, berliner-zeitung.de, 28.07.2024 (online)