Dass mediale Darstellungen von realen und fiktiven Delikten Menschen beeinflussen können, die Gewaltverbrechen begehen, ist unter Expertinnen und Experten derzeit eher Konsens. Umstrittener ist dagegen, wie groß diese Effekte sind, ob sie für alle Medienformate und Verbrechen gleichermaßen gelten – und, ob sie wirklich zu neuen Taten anstiften (Motivation) oder „nur“ die Ausführung (Modus Operandi) bereits beabsichtigter Taten beeinflussen. […]
Dabei lässt sich morbide Neugier prinzipiell auch gut bedienen, wenn die Täter selbst nicht im Mittelpunkt stehen. Das legt zumindest ein Experiment nahe, das die Kriminologen Jack Levin und Julie Wiest 2018 ebenfalls im American Behavioral Scientist publiziert haben. In diesem ließ sich zeigen, dass Menschen sich mehr für News über eine Person interessieren, die durch ihr Eingreifen einen Amoklauf beendet hat, als für neue Nachrichten über den Täter oder das erste Opfer. Die Story über die heldenhafte Intervention hätte deswegen das größte Interesse geweckt, weil sie am ehesten potenziell überlebenswichtige Informationen verspricht, vermutet das Team in seiner Ergebnisdiskussion. Das führt direkt zurück zur Kernfunktion morbider Neugier – zumindest so, wie sie Scrivner und auch andere Forschende verstehen: Letztlich konsumieren Menschen Killerserien und True-Crime-Podcasts, um nicht selbst mal als Opfer darin vorzukommen.
Moritz Borchers, sueddeutsche.de, 26.11.2022 (online)