Wenn man also einmal probeweise unterstellt, dass es in diesem Kulturkampf allen Beteiligten tatsächlich um die Freiheit geht, scheint die Uneinigkeit letztlich darin zu bestehen, was unter dem Begriff genau zu verstehen ist. Zwei Freiheitsbegriffe kollidieren in diesem Zerwürfnis unter Republikanern: die Freiheit, alles sagen zu dürfen und auch im Extremfall nicht gleich sein Recht auf eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe zu verwirken. Und andererseits die Freiheit, sich mit bestimmten Positionen ab einem gewissen Grad der Illiberalität nicht mehr auseinandersetzen zu müssen, sondern im Gegenteil eine freiheitliche Öffentlichkeit davor zu bewahren, dass man die Meinungsfreiheit zu ihrer Abschaffung missbraucht. Es kollidieren hier also ein positiver und ein negativer Freiheitsbegriff, die Freiheit zu etwas und die Freiheit von etwas.
Felix Stephan, sueddeutsche.de, 09.11.2020 (online)