Die Warnung ist die Tonlage unserer Gegenwart. Sie kommt nicht mehr im Gebrüll mancher Lehrer und Hausmeister aus Kindertagen, sondern immer besorgt und einfühlsam daher und mit den angeblich besten Absichten. Der Schlüsselbegriff ist jener der Erfahrung: Man soll, als Konsument, die bestmögliche Erfahrung kaufen können, ohne jede Form von Irritation oder gar Gefahr. Darum leuchtet, wenn ich auf einer digitalen Plattform einen schönen Klassiker der Filmgeschichte, etwa ein Werk von Quentin Tarantino aufrufe, in dem Bruce Willis seine zu viel Unsinn redende Freundin genervt erschießt oder Christoph Waltz als SS-Mann eine Meerschaumpfeife raucht, ein ganzes Feuerwerk von Warnungen auf: Nacktheit, Drogenkonsum, Gewalt, Alkohol, nicht achtsames Verhalten von Top-Nazis und weitere Flüche. Denn so ist das bei diesem Regisseur und bei anderen auch: Das ist nicht für jedes Publikum gleich geeignet.
Der Weg, es herauszufinden, war seit der Befreiung der bürgerlichen Öffentlichkeit von kirchlicher und herrschaftlicher Zensur am Ende des 18. Jahrhunderts stets derselbe: Man sieht sich das Stück an, liest das Buch, hört die Musik, betrachtet das Kunstwerk – dann bildet man sich ein Urteil. Kunst und Kultur werden in einem familiären und sozialen Umfeld rezipiert, daher sind da vorher oder nachher immer Stimmen zu hören, die warnen oder anpreisen, aber die letzte Instanz, das war die so sehr schöne Regel einer offenen Gesellschaft, ist das eigene Urteil.
Nils Minkmar, sueddeutsche.de, 2.3.2023 (online)