Wenn der Sparstift dort angesetzt werden soll, wo man weniger Zuhörerinnen und Zuhörer ausmacht und programmliche Randzonen vermutet, muss man hellhörig werden. Denn auch in der Kunst kommt Innovation stets von den Rändern her. Sie fließt, ja oft sickert sie über Jahrzehnte hinweg, aus den experimentellen Orten, die Mut haben, im Scheitern Neues und Innovatives zu entdecken, in die Mitte der Gesellschaft, um dort Erneuerung zu stiften. Neue Musik, neue Kompositionen aller Genres, müssen permanent auch größeren Öffentlichkeiten vorgestellt werden. […]
Gerade weil wir als Gesellschaft mit den derzeitigen Krisen mehr denn je herausgefordert sind, braucht es ein anderes Denken über Begriffe wie Effizienz und Wertsteigerung jenseits des Ökonomischen, erweitert um eine gesamtgesellschaftliche, soziale Dimension. Dafür braucht es vielstimmige Räume, in denen die Gegenwart gemeinsam reflektiert werden kann und sich Visionen über unsere Zukunft entfalten.
Kulturangebote und Programme zu präsentieren, die nicht dem Diktum der Quote unterworfen sind, ob das nun in Theatern, Konzerthäusern, Museen oder den Sendern des öffentlichen-rechtlichen Rundfunks geschieht, garantiert kulturelle Vielfalt und erfüllt den Bildungsauftrag. Vielfalt kann sich nicht in der Wiedergabe von bereits Durchgesetztem erschöpfen, sondern bedeutet, Hör-, Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten zu durchbrechen, mitunter auch mal zu strapazieren und herauszufordern. Denn nur so kann es gelingen, dem Publikum neue Türen abseits seiner üblichen Vorlieben zu öffnen. […]
Wenn den Autorinnen, den Künstlern, den Komponistinnen und der Musikszene die medialen Plattformen und Sendeplätze abhandenkommen, dann geht nicht nur ein entscheidender Multiplikator verloren, sondern auch ein koproduzierender Partner und Auftraggeber. Jeder vom ORF ausgegebene Euro multipliziert sich in Kulturfestivals und europäischen Netzwerken, die sich der Förderung zeitgenössischer Formate verschrieben haben. Er ist gut angelegt, als Investition, als Förderung und Motor im Sinne wirtschaftlicher und kultureller Wertschöpfungsketten zugleich.
Veronica Kaup-Hasler, derstandard.at, 8.10.2022 (online)