Vor fünfzig Jahren hielten sich in jeder grösseren Stadt die noch zahlreichen Tageszeitungen mindestens einen festangestellten Kunstkritiker und daneben viele inspirierte Freie. Die Kritiker hatten ein Reisebudget, um sich zu informieren und Ausstellungen und Theateraufführungen auch im Ausland zu besuchen. Kulturelle Ereignisse lösten jeweils einen vielstimmigen Chor aus.
Und heute? Die Feuilletons verschlanken sich umgekehrt proportional zur massiven Bedeutungserweiterung, welche der kulturelle Sektor in den vergangenen Jahrzehnten gerade auch in der Schweiz erfahren hat. Eine traurige und besorgniserregende Bilanz! Warum bloss wird so wenig darüber geredet? […]
Kulturkritik wird in unserem Land nur noch tropfenweise, in homöopathischen Dosen geleistet. Und meist bloss in ganz wenigen ernstzunehmenden Organen. Oft von schlecht bezahlten, freischaffenden Journalisten, von welchen lediglich noch Unterhaltsames und leichte Kost erwartet wird. Wir leben im Zeitalter der Klicks, der Algorithmen, des alles bestimmenden Mainstream. Alles, was davon abweicht, gilt als elitär. Und findet sich unter Legitimationsdruck.
Bice Curiger, nzz.ch, 20.3.2023 (online)