Dass sich die Redaktionen so klar auf eine Seite schlagen, rührt weniger von Duckmäusertum als echter Verblendung. Ihnen doppelte Standards vorzuwerfen, hieße darüber zu jammern, dass sie von einem Standard abweichen, den sie schon lange über Bord geworfen haben: die Gleichbehandlung und gleiche Würde für alle menschlichen Wesen.
Der ehemalige Starmoderator des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, David Pujadas, brachte am 11. Oktober im TV-Sender LCI auf den Punkt, was viele Koryphäen seines Metiers denken: Sollten wir die Bewohner:innen des Gazastreifens als Komplizen der Hamas betrachten, so wie die Menschen in Russland möglicherweise Komplizen des Kreml sind?, fragte er sich. Oder sollten wir die übermenschliche Anstrengung unternehmen, Mitgefühl zu zeigen: „Sollten wir sagen, ‚ein Zivilist in Gaza ist dasselbe wie ein Zivilist in Israel‘?“
Die Antwort von John Simpson, Leiter der BBC-Auslandsredaktion, hätte Pujadas wohl verblüfft. Auf die Kritik, die Hamas nicht als Terrororganisation zu bezeichnen, antwortete er: „Unsere Aufgabe ist es, unseren Zuschauern die Fakten zu präsentieren, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.“
Nach den verheerenden Terroranschlägen vom 13. November 2015 mitten in Paris und am 14. Juli 2016 auf der Promenade des Anglais in Nizza haben sich die französischen Nachrichtenredaktionen gewissermaßen selbst radikalisiert und verurteilen seitdem automatisch jede Kritik an den Regierenden in Washington, Brüssel oder Paris als provokant, wenn nicht gar justiziabel. Bericht erstatten bedeutet für sie, die Fakten durch eine atlantische Brille zu betrachten. Die „internationale Gemeinschaft“ ist für sie eine westliche Bruderschaft.
Zu Recht prangern sie nach der Ermordung eines Journalisten in Moskau das autoritäre Regime an; doch die Ermordung dutzender palästinensischer Journalisten entlockt ihnen nur ein müdes Achselzucken. Tausende Artikel beschäftigen sich mit den Desinformationen, die von Russland oder der Hamas verbreitet werden. Kommen die Fake News hingegen aus der Ukraine oder Israel, werden sie ungeprüft übernommen.
Benoît Breville und Pierre Rimbert, monde-diplomatique.de, 11.01.2024 (online)