Die Öffentlich-Rechtlichen haben sich vom angeblichen „Populismus“ eines Teils der fernsehenden Durchschnittsbevölkerung emanzipiert – geschweige denn von dem derer, die nicht fernsehen. Sie sehen sich als gebildeter und kreativer als die Privaten, vor allem aber als viele der Fernsehenden vor „der Glotze“.
Sie meinen deshalb, diesen passiven, also wahrscheinlich lernfeindlichen und von demokratiefernen Mächten leicht verführbaren Bürger „erziehen“ zu müssen, um ihn „integrieren“ zu können – obwohl gerade sie selbst es sind, die das Passivmedium auf diese Passivität hin ausrichten.
Die – gut gemeinte, aber so in der Geschichte des Fernsehens kaum dagewesene – Selbstüberschätzung, die damit verbunden ist und für die wir im folgenden Beispiele anführen, darf einerseits als Folge der kulturellen und sozialen Individualisierung im Allgemeinen gelten. …
In den „klassischen“ Zeiten des progressiven Intellektualismus à la Jürgen Habermas Ende des 20. Jahrhunderts dachte man zumindest theoretisch, dass Fernsehen ein kritischer Universalismus nach allen Seiten hin sei, der die Gesellschaft spiegele. Fernsehen müsse verschiedenste Positionen berücksichtigen und sie im Idealfall, aber nicht notgedrungen, auf eine vernünftige Mitte hin ausbalancieren. …
Gemeinsam war deutschen und französischen Sprach- und MedienvordenkerInnen über Jahrzehnte: Das Prinzip „kommunikativen Handelns“, nicht der Inhalt von Positionen, ist dafür entscheidend, „den Anderen“ in seiner Andersheit anzunehmen – und zwar gerade ohne mit ihm übereinzustimmen, sondern um den offenen „Widerstreit“ zum Wohl von Demokratie zu kultivieren.
Das scheinen die progressiven Eliten des Fernsehens aber vergessen oder aufgegeben zu haben. Ja, sie scheinen es unter dem Druck wiederholter Systemkrisen geradezu in das Gegenteil umkehren zu wollen: sie agieren eher als Propagatoren, Helfer und Stabilisatoren für den politischen Mainstream, den sie für sich als system- und damit auch selbst-„stabilisierend“ erfahren.
Roland Benedikter, Telepolis, 9.9.2022 (online)