Zeitungen sind unabdingbar für alle Arten von Regierungen in der Neuzeit. […] Aber Zeitungen sind nicht nur ein Kommunikationsmittel zwischen Regierung und Gesellschaft, das Mittel, mit dem man sich gnädig belügt und mit dem schmerzhafte Wahrheiten verbreitet werden. Sie wurden auch zu einer bedeutenden Kulturtechnik. Während man zeitungsförmig miteinander kommuniziert, lernt man auch, mit Zeitungen umzugehen. Kritisch und alltäglich. Denn im Gegensatz zum Blick auf das Smartphone ist das öffentliche Zeitunglesen quasi melodramatisch. […]
Machen wir uns nichts vor. Mit dem Verschwinden der gedruckten Zeitung wandern nicht einfach nur die Nachrichten von einem Medium ins andere, sie verändern ihr Wesen, und das meint nicht nur die wachsenden Schwierigkeiten, diese gottverdammten Werbungen zwischen den Absätzen wegzuklicken. Es verschwindet auch eine Art, mit Nachrichten öffentlich umzugehen, und es verschwindet eine Art, wie Nachrichten im öffentlichen Raum unterwegs sind. Die Nachrichten sind jetzt noch mehr Privatsache geworden, und noch weniger gehören sie zu einer mehr oder weniger fixen Position im endlosen Dialog zwischen der Regierung und den Regierten. […]
Als Element von Kritik und Kontrolle waren Zeitungen ein wichtiger Bestandteil der Gewaltenteilung in der Demokratie. Allerdings funktionierte das nie so, wie man es sich als aufklärerisches Ideal vorstellen konnte. Denn im mehr oder weniger goldenen Westen musste die Presse im Allgemeinen, die Zeitung im Besonderen immer auch einen weiteren Widerspruch ausdrücken, nämlich den zwischen Demokratie und Kapitalismus. Die Nachricht war immer zugleich Botschaft und Ware. Und eine Zeitung war immer auch eine soziale Waffe. Man konnte Kriege und Bürgerkriege damit anzetteln, Stimmungen mehr in die fortschrittliche oder in die konservative Richtung lenken oder einfach bösartigen Blödsinn verbreiten.
Georg Seeßlen, taz.de, 09.10.2024 (online)