Wirkliches, langfristiges Nachdenken, während du einen Großteil deiner Kapazitäten auf das Kuratieren des Accounts verwendest, ist in meinen Augen nicht möglich. Vielleicht ist das aber auch ein doofes Ressentiment. […] Ich bin mit acht sehr viel konservativer gewesen, als ich es jetzt bin. Glaube ich. Interessiere mich aber sehr für den Prozess, in dem sich zurzeit so viele ehemals linksintellektuelle Menschen nach sehr weit rechts bewegen, in einer Art farbenfrohem Spektrum. Diesen Prozess begreife ich nur bedingt – was genau ist das? Geht es am Ende weniger um die politische Haltung als darum, sein Leben lang den gleichen Abstand zum politisch vorherrschenden Standard einzuhalten? Oder ist es wirklich reine Angst vor Bedeutungslosigkeit? […]
Vor kurzem saß ich mit eher linksorientierten Porschefahrern nach einer Lesung in einer Kleinstadt beim Essen – kulturinteressierte Geschäftsleute und Naturwissenschaftler, die übergangslos von der Aussage, AfD-Wähler seien Menschen, die man nicht zu verstehen versuchen, sondern einfach unterdrücken müsse, zu einer echten Hetzrede zum Thema Gendern und Geschlechterindefferenz kamen, die dann wiederum, wirklich eins zu eins, dem Tonfall der AfD entsprach. Es war absurd. […]
Wirkmächtig kann Kunst nur dann sein, wenn sie keinerlei erzieherischen Anspruch hat. Da geht es ja um echtes, seelisches Prozessieren von Zuständen, nicht um Reflexe auf die Tagespolitik.
Helene Hegemann, www.berliner-zeitung.de, 07.04.2024 (online)