Vom Attentat auf Trump kursiert besonders ein Foto – dabei zeigt es nur einen winzigen Aspekt. Ikonische Fotografie kann Komplexität nicht erfassen. […] Livemitschnitte des Ereignisses zeigen freilich etwas ganz anderes: Sie zeigen Chaos. Trump, der auf dem Foto so stark wirkt, ist offensichtlich verwirrt. Er scheint unter Schock zu stehen. Die gereckte Faust wirkt zunächst halbherzig, auch wenn sich die Gestik wiederholt.
Genau das ist Fotografie und genau das macht Fotografie: Sie greift aus dem nicht enden wollenden Kontinuum der Zeit einzelne kurze Augenblicke heraus, die Anwesende in dieser Form vielleicht gar nicht bemerkt hätten. Evan Vucci beschrieb einen Tag später im Guardian, wie er das Bild aufnahm. Dabei sandte seine Kamera seine Bilder direkt an die Redaktion – erst 45 Minuten später sah er sein Foto in sozialen Medien. In dem Artikel besprechen Vucci und diverse Redakteure das Bild. […]
Das Trump-Foto regt nicht zum Nachdenken an. Stattdessen hält es Betrachter:innen vom Nachdenken ab – und vertieft die Spaltung des Landes nur noch weiter. Aber die Diskussionen über das Bild und die Tatsache, dass sich so viele Pressevertreter:innen des Problems gar nicht bewusst sind, spiegeln auch wider, in welchem Maße Pressefotografie noch immer in einem veralteten Modell gefangen ist. In einer Zeit komplexer Multikrisen ist es schlichtweg absurd, ein Ereignis auf ein einzelnes Bild reduzieren zu wollen.
Jörg Colberg, taz.de, 18.07.2024 (online)