Künstliche Intelligenz soll helfen, Gewalt und Konflikte vorherzusagen. Aber selbst wenn das gelingt: Wie geht man mit den Warnungen um? […]
Keines der aufwändigen und hochkomplexen Modelle schneidet besser ab als das sogenannte „No-Change“-Model. Übersetzt heißt das: Wer einfach davon ausgeht, dass es in einem Land, in dem es im vergangenen Jahr Konflikte gab, auch im kommenden Jahr ein ähnliches Level an Konflikten gibt, der hat damit in der Regel mehr Erfolg als die schlaueste dressierte Maschine […]
Das liege auch gar nicht an schlechten Algorithmen, sondern an zu wenig Übung. Es gebe einfach zu wenig Konflikte auf der Welt, um brauchbare Daten zu bekommen, mit denen die Maschinen trainiert werden können – zum Glück für die Menschheit. Angesichts der jüngeren Entwicklungen mag das kontraintuitiv erscheinen, aber gewaltsame Konflikte auf der Welt sind vergleichsweise selten, und sie werden eher weniger. […]
Konflikte seien zu komplex, um sie in ein homogenes Vorhersagemodell zu pressen. Die sieben konfliktreichsten Regionen in der Welt seien aktuell Haiti, Mexiko, Kolumbien, Myanmar, Mali, Syrien, Jemen. Ein Modell zu finden, das allein diese sieben Krisenherde anhand ein paar Variablen über einen Kamm schert, findet Raleigh anmaßend. […] Tatsächlich sei es ganz und gar nicht überraschend, was letztlich zu Gewalt führe: Der Kampf um knappe Ressourcen, sei es Territorium, politischer Einfluss. Konflikte seien zwar zu einem gewissen Grad vorhersehbar, aber nur, wenn man den Konflikt selbst analysiere, und nicht als Teil einer großen mathematischen Konfliktgleichung, die auf alle Konflikte der Welt anwendbar sei. […]
Tatsächlich gibt es auch Anzeichen, dass Menschen letztlich die besseren Krisenorakel sein könnten. So hat der US-Forscher Philip Tetlock gezeigt, dass es ganz normale Bürger sind, die drohende Konflikte ziemlich zuverlässig erkennen können. Er veranstaltete Anfang der 2010er Jahre einen Wettbewerb, bei dem durchschnittliche Zeitungsleser bessere Vorhersagen machten als Experten der US-Nachrichtendienste.
Max Muth, sueddeutsche.de, 14.1.2023 (online)