Heute gibt es kein Land in Europa, in dem einer Bevölkerung so wenig an Grund und Boden, an Immobilien und an Betrieben gehört wie den Ostdeutschen im Osten Deutschlands, keine Bevölkerung, die dort, wo sie lebt, so wenige Führungsposten innehat wie die Ostdeutschen, sei es in den Betrieben, in den Medien, den Verwaltungen und Banken, beim Militär und der Polizei oder an den Gerichten und Universitäten. Bundesweit waren 2016 ganze 1,7 Prozent der Ostdeutschen in Spitzenfunktionen bei einem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent. Noch niederschmetternder ist nur: Es gibt keine Tendenz hin zur Angleichung. Weder wächst für Ostdeutsche der Besitz an Wohneigentum, Grund und Boden oder Unternehmen noch der an Führungspositionen. Der Austausch der Eliten war nachhaltig. Die Aufteilung dessen, was den Ostdeutschen als Startkapital hätte zugutekommen müssen, ist längst verkauft oder abgewickelt. Die Ungleichheit vererbt sich im wahrsten Sinne des Wortes fort. …. Je selbstverständlicher die eine Seite ihre Oberhoheit auslebt, desto unbeherrschter, empfindlicher, auch ungerechter und uncooler werde ich selbst, obwohl ich im Westen Berlins in einer Eigentumswohnung lebe und finanziell akut nichts zu befürchten habe.
Ingo Schulze, sueddeutsche.de, 07.06.2021 (online)