Es ist der rote Faden, der das Denken von Angela Merkel, der ersten Ostdeutschen und der ersten Frau im Amt des Bundeskanzlers, vor dem inneren Auge vorbeiziehen lässt. Dieser rote Faden wird nicht explizit gemacht, aber er ist da – es ist der Wille zum Kompromiss, der Angela Merkel tief geprägt und ihr zugleich dabei geholfen hat, nicht nur Krisen zu meistern, sondern auch machtpolitisch 16 Jahre lang das Amt der Bundeskanzlerin auszuüben und am Ende freiwillig und würdevoll abtreten zu können. Eine schier unglaubliche Lebensleistung.
Es gibt eine Passage, die dieses Denken im Kompromiss bestens erklärt. Sie findet sich im Unterkapitel „Der Nato-Gipfel in Bukarest“, wo Angela Merkel aus ihrer Perspektive die Gründe dafür darlegt, dass sie sich gegen die Verabschiedung eines ‚Membership Action Plan‘ für die Ukraine und Georgien auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im Jahr 2008 entschieden hat, „die letzte Stufe innerhalb des Beitrittsverfahrens eines Landes zur Nato“. Für sie wäre das Zeichen, das mit dem MAP-Status gesendet worden wäre, nämlich die beiden Länder alsbald in die Nato aufzunehmen, keine ausreichende Sicherheitsgarantie gewesen, um die Ukraine und Georgien vor russischen Angriffen zu schützen. Zugleich wäre es eine Provokation gegenüber Putin gewesen, der bis zum tatsächlichen Nato-Beitritt die Zeit genutzt hätte, um seine aggressive Politik zu beschleunigen. So jedenfalls Merkels Überzeugung. Sie schreibt: „Über den MAP-Status für die Ukraine und Georgien zu beraten, ohne auch Putins Sicht der Dinge zu analysieren, hielt ich für grob fahrlässig.“ […]
Die Schuldfrage treibt vor allem Journalisten um. Das Buch arbeitet in kompakten Kapiteln alle prägnanten biografischen und politischen Demarkationslinien ab und stellt selbstbewusst Merkels Standpunkte dar. Wer ein Schuldbekenntnis oder einen Entschuldigungskniefall erwartet, dürfte enttäuscht werden. Das Buch markiert ein großes „Ich bereue nichts!“, von einigen kleinen strategischen oder rhetorischen Patzern abgesehen, die Merkel gesteht.
Tomasz Kurianowicz, berliner-zeitung.de, 26.11.2024 (online)