Gerade Minderheiten profitieren von den Freiheiten, die unsere liberale Demokratie garantiert. Der Preis dafür ist, dass wir als Individuen oder in unserer Zugehörigkeit zu (marginalisierten) Gruppen auch mit Sprache und Kunst konfrontiert werden können, die wir möglicherweise als verletzend empfinden. Heißt das nun, dass wir als Gesellschaft es einfach stillschweigend hinnehmen müssen, wenn verletzende, ausgrenzende und menschenverachtende Kunst öffentlich gezeigt wird? Keinesfalls! Natürlich hat jede Person oder Gruppe das Recht, gegen Kulturveranstaltungen oder Kunstwerke zu protestieren, die sie als anstößig empfindet. Das gehört genauso zur Meinungsfreiheit wie die Freiheit, anstößige Theaterstücke spielen zu dürfen. Und Kunst – gerade politische oder politisierte Kunst – ist niemals vor Kritik oder Protest gefeit. Künstlerinnen und Künstler, die mit ihren Werken Botschaften senden, sollten sich nicht wundern, wenn die Empfängerinnen und Empfänger (also die Medien, das Publikum oder andere Künstler) darauf nicht nur mit Jubel oder Gleichgültigkeit reagieren. Oft wird vergessen, dass Kritik ebenfalls ein Teil der Kunstfreiheit ist. Es gibt keine liberale Demokratie ohne eine lebendige Kultur der Kritik. […]
Kritik an Kunst ist immer erlaubt und legitim, sie gehört zur Kunst dazu. Dennoch ist die Forderung falsch, dass der Staat Kunst verhindert, die von jemandem als anstößig empfunden wird. Der Forderung, jeden Trigger, alles, was irritierend oder schmerzhaft sein könnte, möglichst aus der Kunst, Kultur und der öffentlichen Kommunikation zu verbannen, kann vom Staat nicht erfüllt werden. Er sollte es auch nicht. Die Betonung der Differenzen, der Marginalisierung der eigenen Position und der Status als Opfer (oder dessen Anwalt), darf nicht in selbstgerechten Forderungen nach Zensur und Sanktionen münden.
Wir sollten eines nicht vergessen: In Zeiten, in denen die AfD in Geheimtreffen schon Pläne für die Phase nach der Machtübernahme schmiedet, ist die Gefahr für die Kunstfreiheit nicht nur eine Spekulation. Wer dem Kulturbetrieb schaden will, dem kann die Praxis von Gesinnungsprüfungen und die Logik des Generalverdachts besonders nützlich sein. Wer sich zur liberalen Demokratie bekennt, soll sich für die Freiheit der Kunst und gegen Antisemitismus und Rassismus stellen. Kunst ist „nicht nur nicht lenkbar, sondern sie ist auch nicht ablenkbar“, hat schon 1975 der Auschwitz-Überlebende und Psychiater Viktor E. Frankl verstanden. Alles andere ist laut Frankl keine Ästhetik, sondern nur Kosmetik.
Meron Mendel, Blätter 2/2024 (online)