Es gibt Menschen, die sagen, es dominieren wie früher die Staatsmedien. Damit sind nicht nur die öffentlich-rechtlichen Sender gemeint, sondern etwa auch Der Spiegel und Die Zeit. Diese Blätter werden wie Staatsmedien wahrgenommen. Man glaubt, dass diese Medien die Elitenmeinung vertreten und sich um die einfachen Bürger nicht kümmern. Ich kann das insofern nachvollziehen, als man auch als gut Informierter den Eindruck bekommen kann, dass ein Mensch, der eine andere Meinung als der Mainstream der Medien vertritt, Gefahr läuft, medial zum schlechten Menschen degradiert zu werden. Im Ukrainekrieg hat sich das sehr deutlich gezeigt. Wer für Waffenstillstand ist oder als Pazifist auftritt wie ich, wird postwendend als ein egoistischer, selbstsüchtiger Feigling gebrandmarkt. Es gibt also keine unterschiedlichen Sichtweisen, sondern gute Menschen und schlechte Menschen. Wer an Impfungen zweifelt, ist nicht nur ein Idiot, sondern auch ein Menschenfeind. Ähnlich ist es auch jetzt. Wer Mitleid mit den Palästinensern zeigt, ist in Gefahr, als menschenverachtender Antisemit dazustehen. Darauf reagieren Menschen sensibel. Sie nehmen wahr, dass es eine vorgeblich politisch-moralisch richtige Meinung gibt, und wer sie nicht teilt, erscheint als schlechter Mensch. Das ist eine Diskursneuentwicklung, die wir im Westen nicht kannten. […]
Ja, politisch Andersdenkende werden moralisch diskreditiert. Das ist eigenartig. In Ostdeutschland merkt man das besonders. Gerade bei bisher eher politikfernen Menschen entsteht der Eindruck, es gäbe einen Eliten- und Staatsmedienkomplex, mit dem man nichts mehr zu tun haben möchte. Neu ist, dass sich diese Menschen andere Kanäle suchen. Ich finde es schon beunruhigend, was man in diesen anderen Kanälen findet. […]
Man fängt an, sich zu überlegen, was man sagt. Andere ziehen dann willkürlich einen Satz heraus, der einen Shitstorm auslöst. Diskurse verselbstständigen sich. Die Leute interessieren sich nicht mehr für den Kontext und wie jemand etwas gemeint hat. Es geht eher darum, dem Gegner zu schaden, ihn nicht mehr salonfähig zu machen. Ja, ich fürchte mich davor, ich formuliere vieles vorsichtiger, aber ich lasse mich in meiner Meinung nicht verbiegen.
Hartmut Rosa, berliner-zeitung.de, 04.05.2024 (online)