Haltungsjournalismus ist ein oft benutzter Begriff. Man möchte nach vielen Diskussionen darüber sagen, er ist abgenutzt. Deshalb sei hier von „Moraljournalismus“ die Rede. Moraljournalismus ist: Wenn ein journalistischer Beitrag zu einem Thema unterschwellig Position bezieht, obwohl es zu dem Thema legitime unterschiedliche Auffassungen gibt, und er im Rahmen der Berichterstattung platziert, nicht aber als Kommentar ausgewiesen wird. Trotzdem erkenne ich als Leser, Hörer oder Zuschauer klar, dass mir der Urheber des Beitrags ein übergeordnetes moralisches Werturteil zum Thema mitliefert, das ich für ebenso gegeben und unbestreitbar halten soll wie die rein sachlichen Informationen in dem Beitrag.
Diesen Journalismus gab es in den vergangenen Jahren in großem Umfang. Er scheint sein Scheitern langsam zu erkennen, aber eine wirklich umfassende Abkehr sehe ich noch nicht. Die moralische Überhöhung geschieht nicht mit der Brechstange, sondern durch die Auswahl und Gewichtung einzelner Inhalte, durch das Weglassen von Aspekten, durch Emotionalisierung, durch die Auswahl von Experten- und sonstigen Fremdmeinungen, und natürlich durch die Wortwahl. Ich erfahre also nicht nur, was angeblich Sache ist, sondern auch, wie ich es zu bewerten habe. […]
Moraljournalismus löst keine Probleme. Er macht sie größer und schafft neue. Er bietet keine breiten, einladenden Debattenräume, sondern verengt sie. Er führt die Menschen nicht zusammen, zum Austausch aller berechtigten Argumente, sondern vertieft die Gräben. Er sucht nicht vorrangig nach den Verfehlungen der Mächtigen, sondern lässt sich zu oft von ihnen in die Pflicht nehmen und nennt das auch noch „gemeinsam für die Demokratie“. Er verprellt das Publikum, obwohl er doch stets nur das Gute will und im Sinne des Guten und Richtigen berichtet, und versteht es nicht. Die Antwort lautet: Genau deswegen, weil er dieses tut, verliert er es.
Das Rezept wäre einfach: Journalismus. Meinung gerne im Kommentar, und ansonsten wertfreie Berichterstattung, ohne politische Einengung und moralisches Urteil. Sagen, was ist, und nicht sagen, was gefälligst sein soll oder gefälligst nicht zu sein hat. Denn das führt am Ende nur zum Scheitern.
Dirk Jacobs, berliner-zeitung.de, 13.10.2024 (online)