Heute besitzen wir alle ein Kameragewehr. Oder besser ein Kameramaschinengewehr, dessen Besitzer*innen es mitunter geradezu lustvoll nutzen, um gezielt Fake News zu verbreiten, um mit strategischer (Bild-)Desinformation Macht zu zementieren und im Extremfall mit medial inszenierten Rechtfertigungsszenarien ganz reale Kriege loszutreten. Seit der Erfindung der Fotografie waren tatsächliche Kriege immer auch Bilderkriege, deren propagandistische Kontextualisierungen einen kriegsentscheidenden Faktor darstellten. Politische Entscheidungen warden heute maßgeblich auch von fotografischen Bildern beeinflusst, von Bildbotschaften, deren Entstehungsprozesse oft nicht dargelegt oder einfach erfunden werden. Die akute Einschlagswucht ihrer bewusst gewählten und zudem digital bearbeiteten Ausschnitte führen die Konsumierenden in die Irre und manipulieren sie emotional, bevor sie eine eigene, reflektierte Deutung dieser Bilder auch nur versuchen können. Mein Vertrauen in die „Echtheit“ von medialen Bildern ist durch die Möglichkeiten der Digitalisierung in erschreckender Weise verlorengegangen. Wer kann mir heute noch mit Gewissheit sagen, wie „unbearbeitet“ oder „bearbeitet“ ein Bild daherkommt? Ob Fotografien und ihnen zugeordnete Texte tatsächlich zusammengehören oder der Zusammenhang durch eine entsprechende Bildunterschrift nur suggeriert wird, um eine möglichst dramatische Wirkung zu erzielen?
Um so notwendiger wäre die intellektuelle Durchdringung der Macht von Bildern. Doch die Studierenden, die jedes Jahr zu uns kommen, können zwar Wörter lesen, manche von ihnen auch Noten – das haben sie in der Schule gelernt. Aber Bilder lesen, das kennen und können sie nicht, das haben sie in der Schule nämlich nicht gelernt. Sie können Bilder betrachten, beschreiben oder mit ihrem Talent welche erzeugen. Aber das Bilderlesen im Sinne einer Hinterfragung und Analyse bezüglich Dramaturgie und Haltung ist ihnen weitgehend fremd.
Thomas Schadt, filmakademie.de, Februar 2022 (online)