Wenn das Bundesverfassungsgericht heute entscheiden würde, dass der Satz „Soldaten sind Mörder“ nicht strafbar ist – der Protest wäre noch viel lauter als im Jahr 1995, als Karlsruhe dieses Straflosigkeitsurteil fällte. Die höchsten Richter stellten sich damals nicht hinter diesen Satz; sie teilten nicht die Aussage, sondern sie schützten den, der sie macht, vor strafrechtlicher Verfolgung – nicht mehr, nicht weniger. Wären nämlich nur solche Meinungen von der Meinungsfreiheit geschützt, die von der Mehrheit geteilt werden, dann müsste die Meinungsfreiheit künftig Mehrheitsmeinungsfreiheit heißen. Es mag sein, dass der Satz heute, in der Kriegstüchtigkeitsrenaissance, die Mehrheit so aufbringt wie damals, 1931, als Tucholsky ihn formulierte. Aber selbst damals kam das Kammergericht Berlin im folgenden Jahr zu einem Freispruch: Straffrei bleibt, wer sich mit dem Krieg als solchem und seiner verrohenden Dynamik auseinandersetzt.
Heribert Prantl, sueddeutsche.de, 29.08.2024 (online)